Krisenstabs-Chef spricht über eigene Zweifel am Bielefelder Corona-Kurs

Bielefeld. Das Coronavirus bestimmt seit Wochen unseren Alltag. Langsam – aber sicher – kommt wieder etwas Normalität zurück. Die vielen Geschichten rund um unser Leben mit dem Virus fasst die Neue Westfälische in dieser Rubrik zusammen. Wollen auch Sie berichten? Dann schreiben Sie an bielefeld@nw.de. Die Unsicherheit irritiert Ich geb es zu: Auch ich bin ein bisschen &bdquo;coronamüde“. Nicht nur, dass ich nach wie vor ständig meine Maske vergesse und auf dem Weg zum Bäcker umkehren und doppelte Wege gehen muss, um sie zu holen. Vor allem irritiert mich die Unsicherheit, in der wir unsere Entscheidungen treffen müssen: Ist die Öffnung richtig? Gehen wir zu große Risiken ein? Kommt jetzt noch eine zweite Welle (auf die wir uns ja vernünftig vorbereiten müssen) oder eben nicht? Und manchmal erwische ich mich angesichts unserer niedrigen Zahlen sogar bei dem Gedanken: Haben wir gnadenlos übertrieben und Corona ist gar nicht schlimm? (Dann denke ich aber an Italien, die USA oder an Brasilien und komme zu der Überzeugung: Nee, wir haben viel richtig gemacht.) Jetzt bedeutet &bdquo;Entscheiden“ immer, nicht ganz sicher sein zu können, was die Zukunft bringt und deshalb auch gewisse Risiken eingehen zu müssen. Das unterscheidet &bdquo;Entscheiden“ von &bdquo;Auswählen zwischen zwei gut bekannten Alternativen“. Derart schwer einschätzbare Perspektiven habe ich schon während der Flüchtlingszuwanderung 2015 erlebt – aber jetzt sind die Rahmenbedingungen für das eigene Handeln und Entscheiden noch unbestimmter. Wir sitzen dabei alle im selben Boot – es geht uns ja allen so. Mir persönlich helfen folgende &bdquo;Haltungen“ dabei, damit umzugehen: Auf Sicht fahren und in &bdquo;Szenarien“ denken: Ganz ehrlich, wir sind beispielsweise als Gesundheitsamt in Sachen Corona &bdquo;nur“ für die nächsten vier oder fünf Wochen personell gut aufgestellt und werden die Arbeit rund um Corona damit gut schaffen. Gleichzeitig denken wir in &bdquo;Eskalationsstufen“ und bereiten uns darauf vor, dass es auch wieder schlimmer werden könnte. Aber wir können heute nicht das Personal vorhalten, das wir für die Kontaktverfolgung bei 100 Infektionen bräuchten, wenn wir tatsächlich nur 11 haben. Wir wissen allerdings einigermaßen verlässlich, wo wir das Personal schnell herkriegen, wenn es richtig schlimm wird. Diskussionen zulassen: Wir sprechen intern viel über unsere jeweiligen Einschätzungen und Annahmen. Das gilt für den Verwaltungsvorstand, aber auch für den Krisenstab und in den fast täglichen Abstimmungen zwischen Gesundheitsamt und mir. Wir sind sogar relativ entspannt, wenn wir uns gegenseitig eingestehen, dass wir auch nicht wissen, wie es mit &bdquo;Corona“ weitergeht. Diese Ehrlichkeit hilft, auch in Alternativen zu denken und zu planen. Ich glaube, dass wir diese Offenheit für Diskussionen auch mit den Bürgern brauchen: Wer heute zu viel Gewissheit über künftige Entwicklungen verbreitet, kann sich morgen schon gnadenlos damit blamieren und Vertrauen verspielen. Das Problem ist nur, dass dieses Zugeben von Unsicherheit unserer politischen Kultur und sowohl den Erwartungen der Bürger als auch dem Selbstbild von politisch Verantwortlichen widerspricht, die ja eigentlich &bdquo;die Oberchecker“ sein sollen beziehungsweise wollen. Viel miteinander reden und erklären hilft da. Vorsichtig, aber nicht übervorsichtig zu sein: Angesichts der guten Entwicklung in Deutschland und in Bielefeld bin ich nicht übermäßig nervös, wenn es um neue Regelungen und Verhaltensweisen geht. Das gilt beruflich für die Öffnung der Kitas oder für die Duscherlaubnis in Sporthallen. Wir müssen halt beobachten, was das für die Infektionszahlen bedeutet und dann schnell genug reagieren. Das gilt aber auch für mein persönliches Verhalten: Mittlerweile gehe ich eben auch wieder ins Fitnessstudio. Aber seltener als vorher und immer mit Abstand und Desinfektionsmittel. Und was mir auch hilft: Auch mal über was anderes reden als über Corona. Insofern freue ich mich sogar über Geisterspiele. Ingo Nürnberger (47), Sozialdezernent »Mama? Bist du auch tot?« Mama, Dinosaurier sind doch tot, oder? Aber die Ritter fangen die doch, oder? Nee, Drachen! Aber die gibt’s doch gar, nicht, oder? Aber Ritters schon! Was machen die eigentlich? Oder sind die auch tot? Mama? Bist du auch tot? Nein, nur sooo müde, antworte ich meinem vierjährigen Sohn Fabian. Ja, Corona hat unseren Alltag ziemlich verändert. Und langsam reicht’s. Weder meiner Arbeit als Bauleiterin noch meiner Familie kann ich gerecht werden. Wann ich für die Handwerker erreichbar bin? Morgen, frühestens ab 16 Uhr, Freitag gar nicht, am Feiertag schon. Da ist ja mein Mann zuhause bei den Kindern. Feierabend: 22 Uhr. Da entspanne ich mit Zeichnen. &bdquo;Elternfeierabend“ war das erste Bild, das ich in meinem Whats App-Status &bdquo;veröffentlicht“ habe. Dann fiel mir immer wieder was Neues ein oder auf, so dass es zu einer Art Tagebuch wurde. Ich mag besonders den &bdquo;Fernseh-Flash-Fabian“. Oder &bdquo;Achtung Menschen!“: Fabi ist mir neulich mit dem Laufrad auf die Straße gefahren, weil er meinte, den Abstand zu den entgegenkommenden Fußgängern nicht einhalten zu können. Zum Glück ist Lipperreihe ein Dorf. Auf die Zeichnungen bekomme ich viele positive Reaktionen, einige finden sich wohl wieder – und freuen sich, zwischendurch etwas zum Lachen zu haben. Ich bin erstaunt über die Lockerungen, die es derzeit gibt: Kita für alle ab 8. Juni, aber zur Schule dürfen die Kinder nur einmal pro Woche. Obwohl die Größeren doch viel besser Abstand halten können. Viele reden über Urlaub, sind schon wieder unterwegs an den langen Wochenenden, gehen essen oder shoppen – wie viel Zeit manche doch im Moment haben. Manchmal ist es echt anstrengend und frustrierend, aber eigentlich geht’s uns ja gut. Wir sind gesund und haben Familie – ein Glück. Annika Klusenberg (40), Architektin und Mutter Ehrfurcht vor dem Wunder des Lebens Wir haben das gar nicht so mitgekriegt mit Corona!“ Das kann ich von mir nun so gar nicht behaupten. Es ist warm, der Mund-Nasen-Schutz macht es nicht besser. Ich schwitze unter meiner Maske. Natürlich haben die beiden Corona nicht verpasst. Aber sie haben kurz davor ihr erstes Kind bekommen. Und da liegt jetzt der kleine Bruno in seinem Bett und schläft den Schlaf der Gerechten. Unter den Lidern rollen die Augen, im Traum verarbeitet er seinen ersten Ausflug in die Stadt. Trotz Masken sieht man, wie Mamas und Papas Augen strahlen. Wann immer sie zu dem kleinen Kerl gucken, spüren sie: Es gibt etwas Größeres! Größer als ich, als die Beschränkungen, als der kleine Ärger, größer sogar als die großen Sorgen. Mit dieser Ehrfurcht vor dem Wunder des Lebens stecken die beiden mich an – und ich vergesse, dass die Maske mich eigentlich nervt. Benjamin von Legat (51),Pastor Peter und Paul

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