Justizpanne? Messerstecher kam frisch aus der U-Haft - und galt als tickende Zeitbombe

Bielefeld. Der mutmaßliche Messerstecher vom Schelpmilser Weg, der in der Nacht zum 1. Mai einen 17-jährigen Passanten überfallen und dabei erstochen haben soll, saß kurz vor seiner Tat noch in Untersuchungshaft – wegen Wiederholungsgefahr. Am 26. März aber wurde Eduard T. ohne Gerichtsverfahren entlassen. Das Opfer der Bluttat hätte am Montag seinen 18. Geburtstag gefeiert. Laut Amtsgerichtsdirektor Jens Gnisa hatte die zuständige Jugendrichterin keine weiteren Haftgründe mehr gesehen. Insider sind fassungslos. Sie sprechen davon, dass die Justiz eine &bdquo;tickende Zeitbombe" freigelassen habe. Gewalttätige Überfälle und eine Mittäterschaft bei einer Vergewaltigung Ursprünglich angeklagt war der damals noch 17-Jährige wegen eines &bdquo;einfachen Raubes", den er am 9. Februar 2019 begangen haben soll, erklärt Amtsgerichtssprecher Roland Pohl: &bdquo;Zu diesem Zeitpunkt hatte er noch keinerlei Vorstrafen." Doch danach muss es mit der kriminellen Karriere des Angeklagten steil bergauf gegangen sein. Weitere Raubtaten, bei denen er auch Schlagwaffen eingesetzt haben soll, und sogar eine Mittäterschaft bei der Vergewaltigung einer jungen Frau sollen ihm inzwischen vorgeworfen werden. Schließlich beantragte die Staatsanwaltschaft einen U-Haftbefehl gegen T. wegen Wiederholungsgefahr. Die Justiz war sich zu diesem Zeitpunkt einig: Denn seit dem 31. Oktober saß der mutmaßliche Intensivtäter tatsächlich im Jugendgefängnis in Herford. Acht Tage vor dem zweiten Termin, wird er entlassen Wegen der hinzugekommenen Straftaten wurde auch die erste Gerichtsverhandlung T.s am 3. Januar 2020 vor dem Jugendschöffengericht ausgesetzt. &bdquo;Weitere Anklagen sollten hinzugenommen werden", erklärte Pohl. Weil dadurch Fristen nicht einzuhalten waren, musste ein neuer Verhandlungstermin angesetzt werden – für den 3. April. Doch acht Tage vor dem Prozess, nach exakt 21 Wochen U-Haft, kam der inzwischen 18-Jährige wieder auf freien Fuß: &bdquo;Die Richterin hat den Untersuchungshaftbefehl mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft aufgehoben", sagt Pohl. Was Beobachter des Mannes auf seinem Weg zum gewalttätigen Intensivtäter fassungslos zurücklässt, erklärt Gerichtssprecher Pohl so: &bdquo;Die Richterin kam trotz der zusätzlichen Anklagen zu dem Schluss, dass der Angeklagte voraussichtlich eine Bewährungsstrafe zu erwarten hat." Welche Anklagevorwürfe konkret dazugekommen sind, konnte Pohl nicht sagen. Wenn aber das Verfahren auf eine Bewährung hinauslaufe, so Pohl, &bdquo;dann kann man eine Untersuchungshaft nicht mehr aufrechterhalten." Die Richterin zeigte sich betroffen von der Tat Die Richterin sei in ihrem Urlaub von Amtsgerichtsdirektor Jens Gnisa über den tödlichen Raubüberfall informiert worden. &bdquo;Sie ist betroffen über die Tat", sagte Pohl. Dennoch seien für sie mehrere Umstände relevant für ihre Entscheidung gewesen: &bdquo;Der Angeklagte saß inzwischen fünf Monate lang in U-Haft. Der Führungsbericht aus der Justizvollzugsanstalt Herford war ausgesprochen positiv. Er ließ sich von der U-Haft offenbar beeindrucken. Außerdem hatte der Angeklagte zu diesem Zeitpunkt noch keine Vorstrafen." Angesichts der prognostizierten Bewährungsstrafe habe dann auch die Staatsanwaltschaft der Aufhebung zugestimmt. Zunächst hatte das Amtsgericht noch gemeldet, dass der Prozess wegen der Corona-Bestimmungen abgesagt wurde, obwohl der Gerichtssaal groß genug gewesen wäre, um die erforderlichen Abstände einzuhalten. Nach dem Gespräch Gnisas mit der Richterin stellte sich das aber als falsch heraus. Ohne U-Haft kein dringlicher Prozess Da eine Untersuchungshaft sechs Monate nicht überschreiten darf, war das Verfahren bisher als dringende Haftsache trotz der Corona-Pandemie zu verhandeln gewesen. &bdquo;Weil nun aber keine Haft mehr zu erwarten war, lagen für die Durchführung der Verhandlung keine dringenden Gründe mehr vor", erklärt der Gerichtssprecher. Aber selbst wenn der Prozess stattgefunden hätte, wäre Eduard T. ohnehin am 3. April frei gekommen. Davon jedenfalls ging die Richterin in ihrer Prognose aus. Die entscheidende Frage in dem Fall lautet: Warum konnte die Justiz vier Monate nach Anklageerhebung plötzlich einen Untersuchungshaftbefehl erwirken, obwohl die Anklage nur minderschwere Vorwürfe erhebt? Entweder standen damals viel schwerere Vorwürfe im Raum, die sich bis zum März nicht erhärten ließen. Oder die Justiz war nicht ausreichend über die weiteren Tatvorwürfe informiert. "Die Strafe erreicht die jugendlichen Täter zu spät" Ein Kommentar von Jens Reichenbach Wenn ein krimineller Jugendlicher sich rasant zu einem Intensivtäter entwickelt, wird allzu deutlich, dass die Justiz dieser Entwicklung nicht gewachsen ist. Im Fall Eduard T., dem 15 Monate nach seinem ersten Raubüberfall sogar vorgeworfen wird, einen Menschen getötet zu haben, hat es zuvor keine einzige Verurteilung gegeben. Während die Polizei also ein gutes Dutzend Vorfälle bearbeitet, die eine beängstigende Eskalation aufzeigen, bereiten die Gerichte immer noch den ersten Prozess vor. Dabei war die Gefährlichkeit des Beschuldigten spätestens seit Oktober bekannt, als er mit einem Nothammer auf den Kopf seines Opfers eingeprügelt haben soll. Die prompte U-Haft war konsequent, doch passte sie offenbar nicht zur ersten minderschweren Anklage. Schnellverfahren oder Warnschussarreste hätten ihn längst erreichen müssen. Denn schnelle Konsequenzen hinterlassen Eindruck. Und wenn nicht, dann hätten sie wenigstens die akute Wiederholungsgefahr bewiesen. Ein junger Mann könnte dann heute noch leben. Lesen Sie auch:118 Messertaten in Bielefeld 2019Experten geben Tipps zum Verhalten bei Messertaten

Meistgelesen