Wegen dieser Frau blickt die Welt schon wieder nach Bielefeld

Bielefeld. Es ist 13 Uhr, da ertönen in der sonst so ruhigen Stadtbibliothek plötzlich laute Schreie. Mitarbeiter reißen ihre Hände in die Luft und umarmen sich: Soeben wurde bekannt, dass der Literaturnobelpreis an Olga Tokarczuk geht. Die polnische Schriftstellerin wird von jetzt auf gleich weltweit bekannt – und steht nun in einer Reihe mit Thomas Mann und Hermann Hesse. Und wo verbringt sie den vielleicht wichtigsten Tag ihres Lebens? In der Bielefelder Stadtbibliothek. Zwei Stunden zuvor: &bdquo;Ich glaube nicht, dass ich es werde", sagt Tokarczuk am Telefon zu Klaus-Georg Loest. Auch der Leiter der Bielefelder Stadtbibliothek rechnet zu dieser Zeit nicht wirklich damit, dass die abendliche Gastleserin den weltweit wichtigsten Preis ihrer Branche erhalten wird. Schon Monate zuvor hatte sie zugesagt, um bei den Bielefelder Literaturtagen aus ihrem Roman zu lesen – zum dritten Mal nach 2004 und 2011. Damals ahnte niemand, welch rasante Wendung dieser Tag nehmen sollte. Der Zufall schlug zu. Olga Tokarczuk sitzt am Mittag im schwarzen Volvo mit polnischem Kennzeichen – &bdquo;irgendwo zwischen Berlin und Bielefeld", sagt sie. &bdquo;Plötzlich sah ich einen Anruf mit schwedischer Nummer auf dem Display – und mein Blutdruck schoss hoch." Nach 30 Minuten sind alle 300 Karten weg Der Anruf der schwedischen Nobelpreis-Kommission wird das Leben der 57-Jährigen verändern – und stellt zugleich den Alltag einiger Bielefelder auf den Kopf. Denn jetzt dämmert auch den abendlichen Gastgebern, was hier gerade passiert ist. Die Stadt beruft sofort eine Pressekonferenz für den Nachmittag ein, um die unzähligen Medienanfragen aus aller Welt zu bündeln. Auch in der Stadtbibliothek laufen die Drähte heiß. Bis zum Mittag hatten sich 35 Interessierte für die abendliche Lesung angekündigt. 30 Minuten später sind alle 300 Karten weg. In den Bielefelder Buchhandlungen sind bis zum Nachmittag alle Bücher Tokarczuks ausverkauft. "Seit der heutigen Bekanntgabe haben bereits viele Kunden nach den Werken von Olga Tokarczuk in unseren Buchhandlungen gefragt – insbesondere in Bielefeld ist das Interesse hoch", schreibt Thalia-Sprecherin Sarah Melke. Ab 16 Uhr trudeln die ersten Medienvertreter auf dem Neumarkt ein – aus dem ganzen Land. &bdquo;Ein solches Ereignis hatten wir in Bielefeld noch nie", sagt Stadt-Sprecherin Gisela Bockermann. &bdquo;Und das werden wir auch nie mehr erleben. Was für ein super guter Tag für uns." Loest ergänzt: &bdquo;Das ist wie eine gewonnene Weltmeisterschaft. Eine Sensation." Loest weiß als Kenner der Branche gut, welch enormer Druck auf Nobelpreis-Trägern lastet. "Mit der Öffentlichkeit werden nicht alle fertig", sagt er. "Olga aber ist eine gestandene Frau. Die wird das durchhalten." Eine Stunde später steigt Oberbürgermeister Pit Clausen aus dem Auto, mit der goldenen Amtskette auf seiner Brust. Er wird den Ehrengast als erstes feierlich begrüßen. Dafür musste er zwei Abendtermine absagen. &bdquo;Jetzt ist Bielefeld schon wieder weltweit in aller Munde", sagt er und lacht. Eine Anspielung auf den Wettbewerb zur Bielefeld-Verschwörung. Der hatte erst kürzlich internationales Echo ausgelöst. Clausen weiter: "Ich gratuliere dem Team der Stadtbilbliothek für dieses wunderbare Timing." Tokarczuk steckte im Stau in der Turnerstraße Doch zu dieser Zeit befindet sich Tokarczuk noch auf dem Weg von Potsdam nach Bielefeld. Dort hatte sie am Vorabend erstmals aus der deutschen Übersetzung ihres hoch gelobten 1.200-Seiten-Romans &bdquo;Jakobsbücher" vorgelesen. Mit dabei ihr Übersetzer. &bdquo;Sie ist in einem Kilometer da", heißt es um 17.40 Uhr. Doch die mehr als 30 Journalisten starren vergeblich in alle Himmelsrichtungen. Wieder vergehen Minuten; langsam kommt ein wenig Unruhe auf. &bdquo;Mist, sie steckt im Stau in der Turnerstraße. Das dauert noch." Lautes Lachen. Um 18.02 Uhr fährt der schwarze Volvo vor. Tokarczuk steigt aus und blickt in ein Meer aus klickenden Kameras. Etwas schüchtern und verloren mustert sie die Menge, dann heißt Clausen sie willkommen. &bdquo;Danke für den herzlichen Empfang", sagt die Schriftstellerin später – und wirkt dabei noch immer benommen. Sie habe während der Autofahrt versucht, ihre Gedanken zu sortieren - mit mäßigem Erfolg. "Lasst uns mal abwarten, wie es morgen ist", sagt sie. Und: "Ich habe keinen richtigen Beruf. Alles, was ich kann, ist Schreiben." Die Schriftstellerin erhielt in Polen Morddrohungen Die Schriftstellerin glaubt, dass sie eine der jüngsten Preisträgerinnen ist. Und sie erwähnt bewusst, dass sie eine Frau ist. "Das ist von Bedeutung", sagt sie. In ihrer Heimat erhielt Tokarczuk mitunter viel Gegenwind - bis hin zu Morddrohungen, weil sie sich kritisch mit der polnischen Demokratie auseinandersetzte. Bei ihrem Auftritt in Bielefeld vor den Pressevertretern wirkt sie nachdenklich und überlegt. Vor allem aber symphatisch. Bevor sie um 20 Uhr die Lesung begann, musste sie der BBC noch ein Interview geben. An die Presseanfragen aus aller Welt wird sie sich nun gewöhnen müssen. "Entschädigt" wird sie mit einem Preisgeld von rund 850.000 Euro. Und was verbindet sie ab jetzt mit Bielefeld, der Stadt, die sie schon zweimal besucht hatte? Tokarczuk antwortet mit einer Gegenfrage: &bdquo;Wer hätte gedacht, dass Bielefeld so ein wichtiger Ort für mich werden sollte?"

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