„Im Städte-Vergleich kommt Bielefeld ganz gut weg“

Bielefeld. Marie Lemser gehört zum Team von Wissenschaftlern an der Uni Bielefeld, die sich in einem so genannten Sonderforschungsbereich mit der Praxis des Vergleichens beschäftigen. Sie gibt Antworten darauf, warum Menschen das überhaupt machen und wie die Griechen in der Antike schon mit Rankings arbeiteten. Frau Lemser, warum untersuchen Wissenschaftler die Praxis des Vergleichens?Marie Lemser: Wir Menschen vergleichen ständig. Es ist alltäglich, es zu tun. Deswegen ist es an der Zeit, die Praxis des Vergleichens wissenschaftlich zu betrachten und zu analysieren. Stimmt, ständig wird verglichen: in der Schule, im Sport, an der Uni, in den Medien, im Beruf, privat, überall und jederzeit. Warum tun wir das?Lemser: Damit ordnen wir die Welt. Wir machen ihre Komplexität so fassbar. Ist das eine typische menschliche Verhaltensweise, war das schon immer so? Lemser: In unserem Team sind auch Historiker, die das untersuchen. Ich selbst beschäftige mich mit Vergleichspraktiken in der Antike, speziell der Griechen, nachdem Alexander der Große im 4. Jahrhundert vor Christus bis nach Indien gezogen ist. Von dort hat er viele unbekannte Eindrücke mitgebracht, die die Griechen verstehen und einsortieren mussten. Unsere These lautet, dass sie dafür Vergleiche mit ihrer bekannten Welt nutzten. Eine gute Methode?Lemser: Bis heute versuchen Menschen, das Unbekannte durch Vergleiche zu erschließen, ausgehend von den eigenen Denk- und Philosophiemodellen. "Das Bielefelder Viertel erinnerte sie an Montmartre in Paris" Wobei sich doch Vergleiche nicht immer auf sich beziehen, sondern oft zwei andere Gegenstände betreffen.Lemser: Richtig. Die antiken Griechen kannten Ägypten gut. Deshalb haben sie in ihren schriftlichen Zeugnissen Indien mit Ägypten verglichen, angefangen damit, dass sie feststellten, dass beide Länder einen großen Fluss als wichtigste Lebensader haben. Haben sich im Laufe der Zeiten nur die Vergleichsgegenstände geändert, die Methoden aber sind gleich geblieben? Lemser: Das untersuchen wir mit den Teilprojekten auf vielen Zeitebenen. Es gibt zum Beispiel das heute übliche Format von Rankings. So etwas ähnliches wie Rankings hatten aber die Griechen schon vor 2.500 Jahren. In den Quellen gibt es Listen, wo Völker zum Beispiel nach ihrem Alter geordnet wurden. Ägypten wurde dann etwa als sehr alt eingeordnet, die meisten anderen aber als jünger als die Griechen selbst. Objektiv sind Vergleiche selten, oder?Lemser: Das ist eine Grundthese bei uns: Wir können denken, wir wären neutral und objektiv, wenn wir zwei Gegenstände miteinander vergleichen. Tatsächlich aber sind wir das nie. Die Subjektivität beginnt schon bei den Maßstäben, die wir setzen und bei der Auswahl der Gegenstände. Schließlich definiert man das andere immer von seinem Standpunkt aus.Lemser: So ist es. Eines unserer Paradebeispiele dafür ist der Vergleich des Verkehrs in Neu- Delhi in Indien mit dem Verkehr in Stockholm in Schweden, durch Europäer. Das Ergebnis dabei – deutlich chaotischerer Verkehr in Neu-Delhi – ist vorhersehbar, jedoch subjektive europäische Sicht. "Schon die antiken Griechen haben Städte verglichen" Ihr Sonderforschungsbereich hat im Historischen Museum seine Arbeit vorgestellt. Dabei haben Sie Vergleiche zwischen Städten genutzt. Warum? Lemser: Damit wollten wir unsere abstrakten Forschungsthemen auf eine Alltagsebene bringen. Und in meinen Quellen aus dem 4. Jahrhundert vor Christus ist mir aufgefallen, dass schon damals die Autoren Städte miteinander verglichen. Das erinnerte mich an das Phänomen, das man oft im Urlaub hat: Man ist das erste Mal an einem Ort und setzt das Gesehene gleich in Relation zu dem Bekannten. Ich war zum Beispiel in Gent in Belgien, das mich sofort teilweise an schwedische Städte sowie Amsterdam erinnerte; Brüssel hingegen kam mir sogleich französisch vor. Augenblicklich werden neue Eindrücke durch Vergleiche eingeordnet, statt sie erst einmal für sich wirken zu lassen. Das finde ich sehr interessant. Ich habe für die Ausstellung drei zugezogene Bielefelder befragt, wie für sie die ersten Eindrücke von der Stadt waren. Was kam dabei heraus? Lemser: Ihre ersten Eindrücke waren von den eigenen Heimatstädten geprägt. Für die Frau aus Istanbul war Bielefeld wie ein kleinerer Stadtteil von Istanbul. Der Mann aus Tübingen stellte fest, dass der klassische, ordnende Fluss fehlt. Für ihn übernahm in Bielefeld der Ostwestfalendamm diese Funktion. Und die Frau aus Paris erkannte im Viertel um den Siegfriedplatz Ähnlichkeiten zu Montmartre. Zumindest letzteres klingt schmeichelhaft für Bielefeld. Lemser: Ja, das haben natürlich alle sehr gerne gehört, weil Bielefeld dabei sehr gut wegkommt. Vielleicht hat sie das aus Höflichkeit gesagt?Lemser: Nein, sie hat es wirklich so empfunden. Waren die Aussagen der anderen beiden eher negative Bielefeld-Beurteilungen?Lemser: Expliziert nicht unbedingt, impliziert schon eher. Die Frau aus Istanbul empfand Bielefeld als sehr leer und daher auch einschränkend. "Selbstabwertung ist nicht nötig" Die Stadt selbst leidet an einem Imageproblem, weil sie sich im Vergleich zu anderen Städten als unbedeutend oder nicht besonders schön einstuft. Lemser: Diese Selbstabwertung ist nicht nötig. Mit dem Projekt zeigen wir unter anderem, dass gewisse Dinge zwischen Städten unvergleichlich sind. Und außerdem hat Bielefeld seine schönen Seiten und sogar Gemeinsamkeiten mit Paris, wie wir jetzt wissen. Also gilt es, statt durch Vergleiche auf- oder abzuwerten, eher darum, seinen eigenen Platz zu finden und zu reflektieren? Lemser: Bei Vergleichen geht es immer darum, seine eigen Position zu definieren. Man erkennt sich über das Andere, mit dem man sich vergleicht. Im Zeitalter von Instagram und anderen Medien wird das besonders deutlich. In der Antike war es aber nicht anders. Dort bildete sich die griechische Identität unter anderem durch Abgrenzung zu den anderen, die andere Götter anbeteten und andere Sprachen sprachen. Können Sie ein Beispiel dafür nennen?Lemser: Es gibt Quellen aus dem antiken Griechenland, die berichten davon, dass die Inder viele Dinge anders machen. Es gibt Textstellen über Brahmanen. Diese Philosophengemeinschaften soll schon Alexander der Große besucht haben. Er berichtet über deren Askese und Bedürfnislosigkeit. Das ist ein interessanter Aspekt, weil diese Lebensform zu der Zeit in griechischen Philosophiekreisen ebenso Konjunktur hatte. Also verglichen die Griechen sich mit den Indern. Dabei legten sie die eigenen Idealbilder als Maßstab fest und betrachteten von dem Standpunkt aus die Askesepraktik Indiens. Ist den Griechen die Subjektivität ihrer eigenen Vergleiche bewusst gewesen?Lemser: Es gibt eine Textstelle bei Herodot aus dem 5. Jahrhundert vor Christus, in der über Bestattungsriten von Indern und Griechen erzählt wird. Darin erkennt er: Andere Länder, andere Sitten und dass man alles auch ganz anders machen könne als man selbst. »Manchmal bestätigen Vergleiche auch Klischees« Umgekehrt lassen sich durch Vergleiche – trotz aller offensichtlichen Unterschiede – Gemeinsamkeiten feststellen. Lemser: Deshalb dienen sie ebenfalls dazu, Konflikte zu vermeiden oder zu befrieden. Zum Beispiel stellten die Griechen fest, dass andere Völker andere Götter haben, diese aber ähnliche Eigenschaften und Funktionen wie ihre aufweisen. Was halten Sie von den heute üblichen Uni-Rankings? Lemser: Sie ergeben Sinn, wenn hinterfragt wird, welche Kriterien zugrunde gelegt wurden und wer und wie viele dazu befragt wurden. Wenn ich das Ranking selbst richtig einordne, kann es mir wichtige Informationen liefern, die ich nutzen kann. Sie selbst sind als Wissenschaftlerin von Leipzig nach Bielefeld gekommen. Haben Sie ein Ranking zu Rate gezogen?Lemser: Nein. Sie sind in Jena aufgewachsen, haben in Leipzig studiert. Wie schneidet Bielefeld im Vergleich zu diesen Städten bei Ihnen ab?Lemser: Also, das mit dem Wetter stimmt schon. Manchmal bestätigen sich durch Vergleiche auch Klischees. Während in Leipzig die Menschen noch in den See springen können, muss man hier schon oft wegen Regens drinnen sitzen. Ansonsten kommt Bielefeld ganz gut weg. Hier gibt es unter anderem diesen tollen Wald. Ich bin sehr gerne hier. Und wenn sie heute unterwegs sind, vergleichen sie dann andere Orte eher mit Bielefeld oder mit Leipzig oder Jena? Lemser: Zu dieser Frage passt es gut, was die Frau erzählt hat, die in Bielefeld lebt, aber aus Istanbul kommt. Erst hat sie hier alles mit ihrer Heimatstadt verglichen, mittlerweile, sagt sie, dass Bielefeld ihre Vergleichsreferenz geworden ist. Zugleich hat sie nach Jahren bemerkt, dass sie Istanbul total idealisiert hat. Festgestellt hat sie das natürlich durch einen Vergleich mit ihrer früheren Wahrnehmung.

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