Bielefeld

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Aus dem Alltag einer Mitarbeiterin im Kinderhospiz

Wenn der Tod einen Platz im Leben erhält

Aufwecken: Liebevoll begrüßt Monika Leber den 12-jährigen Jannis, der seine Kuscheltiere nicht aus den Arm lässt, im neuen Tag. | © Sarah Jonek

06.08.2016 | 07.08.2016, 14:45

Bielefeld. 9 Uhr. Auf dem Frühstücksteller liegen liebevoll angerichtet eine zerteilte Scheibe Vollkornbrot, ein Streifen gelbe Paprika, eine schwarze Olive und ein Stück Fleischwurst, ein Glas gefüllt mit Kakao steht daneben. Seit einer halben Stunde versucht Monika Leber der 16-jährigen Lea kleine Häppchen in den Mund zu schieben; mal klappt's, mal dreht die Jugendliche ihren Kopf demonstrativ zur Seite.

Lea ist mit einer Stoffwechselerkrankung zur Welt gekommen, kann weder sprechen noch laufen, der Körper wirkt kindlich. Leber, eine zierliche 56-jährige Frau mit schulterlangen blonden Haaren und leuchtend hellgrünen Augen, ist Krankenschwester im Kinder- und Jugendhospiz. Seit zwei Tagen verbringen die beiden dort ihre Zeit gemeinsam.

Spürt tiefe Dankbarkeit in der Zweisamkeit: Krankenschwester Monika Leber und Lea streicheln sich im Kinder- und Jugendhospiz Bethel in der Hängematte die Hände und genießen den Tag. Stress, findet die 56-Jährige, tut den Kinder nicht gut. - © Sarah Jonek
Spürt tiefe Dankbarkeit in der Zweisamkeit: Krankenschwester Monika Leber und Lea streicheln sich im Kinder- und Jugendhospiz Bethel in der Hängematte die Hände und genießen den Tag. Stress, findet die 56-Jährige, tut den Kinder nicht gut. | © Sarah Jonek

"Magst du noch etwas essen? Vielleicht eine viertel Olive?", fragt Leber das Mädchen im Rollstuhl mit Leuchträdern. Ob Lea sie versteht, weiß sie nicht. Grundsätzlich geht sie aber bei allen Kindern davon aus. Zaghaft greift Lea mit ihren filigranen Fingern nach Leber, sucht die Berührung. "Ja, lass dir ruhig Zeit", sagt Leber, streichelt zärtlich die Hände und lächelt. Stressen lässt sie sich nicht, denn das, sagt sie, ist nicht gut für die Kinder.

Morgenwäsche: Nach dem Frühstück putzt Monika Leber, gut gelaunt, die Zähne von Lea (16), die aber findet das gar nicht so toll. - © Sarah Jonek
Morgenwäsche: Nach dem Frühstück putzt Monika Leber, gut gelaunt, die Zähne von Lea (16), die aber findet das gar nicht so toll. | © Sarah Jonek

Seit 6.30 Uhr ist Leber im Dienst, Frühschicht. Insgesamt acht Kinder sind an diesem Tag zu Besuch, Leber ist für zwei - Lea und Jannis - zuständig. Zu solch früher Stunde, sagt Leber, schlafen die Kinder und ihre Familien, die auf einer anderen Etage untergebracht sind, noch. Zeit also, mit den Kollegen der Nachtschicht die Übergabe zu machen. Es gibt schlechte Nachrichten: Der 12-jährige Jannis litt die ganze Nacht unter epileptischen Anfällen. Von nun an hat Leber die Überwachungsvideos im Auge, falls wieder etwas passiert. Nebenbei bereitet sie Frühstück und Medikamente vor. 7.30 Uhr wacht Lea auf.

9.30 Uhr. Pflegezimmer 6. In einem abgedunkelten Raum liegt Jannis in seinem Bett, eingekuschelt in einer Fußballdecke; im linken Arm eine Stoffgiraffe und eine schwarze Maus, im rechten einen Teddybären und eine weiße Maus. In ihren schwarz-pinken Turnschuhen huscht Leber auf Zehenspitzen durchs Zimmer, beugt sich über das Bett und flüstert: "Aufwachen Jannis." Nach einer liebevollen Streicheleinheit zieht Leber die Vorhänge auf, lässt die Sonne hinein. Bei Jannis, erzählt sie, wurde mit sieben Jahren eine Stoffwechselkrankheit diagnostiziert. Auch er kann weder sprechen noch laufen, das Essen wird ihm per Magensonde zugeführt.

Dass Leber diesen Beruf ergriffen hat, kommt nicht von ungefähr. Am 16. Januar 1960 wird sie als ältestes von fünf Kindern in Tansania geboren. Der Vater, gebürtiger Bielefelder, arbeitet zu dieser Zeit als Diakon für Bethel, eingesetzt in Afrika. Erst 1969 kommt die Familie zurück in die Heimat, in der Leber, bis auf kurze Unterbrechungen in Frankreich, bleiben wird.

1983 absolviert Leber ihre Ausbildung zur Krankenschwester und beginnt 1987 in der Neurologie des evangelischen Krankenhauses. In den Jahren 2002 bis 2004 macht Leber eine Weiterbildung in der Palliativmedizin, seit 2005 arbeitet sie in der Heimbeatmung. Schon früh spielt die alleinerziehende Mutter dreier Kinder mit dem Gedanken, in einem Kinder- und Jugendhospiz zu arbeiten; will sich für das Tabuthema einsetzen, weiß aber, dass die Zeit für sie noch nicht reif ist. Erst, als ihre Kinder groß sind, wagt sie den Schritt und beginnt 2012 ihren neuen Job.

Vorsichtig zieht Leber dem Jungen den Schlafanzug aus, löst die Windel, tunkt einen Waschlappen in warmes Wasser und beginnt, Jannis zu waschen. Nur Katzenwäsche. Alles andere, sagt sie, ist nach so einer Nacht zu anstrengend.

Wenn sie fremden Menschen erzählt, was sie beruflich macht, sagen die meisten: "Das ist aber hart." Ja, es ist hart, findet Leber. Erst am vergangenen Wochenende ist eine junge Frau gestorben. Den Schmerz hat sie mit nach Hause genommen. Der Tod von Kindern, sagt sie, ist besonders hart. Erst recht, wenn sie selbst noch leben wollen. Am Ende aber erwischt er uns doch sowieso alle. Der Tod. Warum ihn also verschweigen?

Die Frau in blauer Jeans und schwarzem Shirt greift nach einem geringelten Unterhemd und einer Jogginghose und packt Jannis warm ein. Die Arbeit hier hat viel mit ihr gemacht, sagt sie. Ihr ist bewusst geworden, dass vieles, was uns immer so wichtig erscheint, eigentlich nichtig ist. Außerdem spürt sie Dankbarkeit. Dankbarkeit für ihre Gesundheit, die ihrer Kinder und die ihres Enkelkindes.

11 Uhr. Leber und Lea liegen in einer riesigen roten Hängematte, die die Eltern für diesen Aufenthalt extra mitgebracht haben. Gespräche mit der Familie, sagt Leber, gehören dazu. Einen Fahrplan hat sie dafür aber nicht. Der Trost und Zuspruch kommt ganz spontan. Viele der Eltern kennt sie bereits seit einigen Jahren, so auch die von Lea.

Im Gegensatz zum Hospiz für Erwachsenen kommen Kinder hier nämlich nicht nur zum Sterben hin. Das passiert durchschnittlich nur acht bis zehnmal im Jahr. Häufig machen die Kinder in Bethel einfach Urlaub, entweder allein oder mit der ganzen Familie. In der Regel stehen jedem Kind jährlich rund vier Wochen Aufenthalt zu. Außer, es sind die Endzüge eines Lebens.

12.00 Uhr. Behutsam löst sich Leber von Lea. Sie muss das Mittagessen vorbereiten, Medikamente auffüllen, Leas Bett frisch beziehen und mit Jannis spazieren gehen. Wenn ihre Schicht um 13.30 Uhr endet, zieht Leber die Türen für diesen Tag hinter sich zu. Auch gedanklich. Draußen, sagt Leber, wartet ihr eigenes Leben auf sie. Und das gilt es dann zu leben.