
Deutschland sucht die Superhirsche. Mit Einzug des Herbstes ist in der Lüneburger Heide ein einzigartiges Schauspiel zu beobachten. In der Hauptrolle: Herr Hirsch. In den Nebenrollen: 150 bis 200 Hirschkühe. Statisten: ihre Kinder, die Kälber und die Spießer. Im Herbst bekommt der König der Wälder Frühlingsgefühle und gibt auf der Waldbühne den Ton an. Es ist Brunftzeit.
Sie röhren. Sie knarzen. Sie grunzen und schnaufen. Kilometerweit wird das ungewöhnliche Konzert der Hirsche übertragen. Manchmal forkeln sie auch, dann prallen die mächtigen Geweihe zweier Konkurrenten aufeinander. Nur selten ist das zu beobachten. In Starkshorn, einem Nest zwischen Eschede und Hermannsburg im Naturpark Südheide, ist die Waldbühne jetzt jeden Abend ab 18 Uhr geöffnet. Dort treffen sich seit Jahrhunderten die tierischen Hauptdarsteller aus der ganzen Region.
Keine 200 Meter entfernt, am Rand der kleinen Kreisstraße von Eschede nach Hermannsburg, wartet schon das Publikum. Zur besten Brunftzeit, so um den 25. September herum, werden immer mehr als 50 Autos gezählt. Das Gerangel um die besten Plätze brachte die Starkshorner schon auf die Idee, eine Tribüne aufzubauen.
Was für ein Brocken
Es wird auf jeden Fall eng. Viele Schaulustige reisen mit Feldstechern, Ferngläsern und Teleskopen an. Aber auch mit bloßem Auge lässt sich das beeindruckende Treiben gut verfolgen."Wahnsinn – sind das viele!" Und: "Guck mal da drüben – was für ein kapitaler Hirsch, was für ein Brocken", sagt Paul zu seiner Frau Christine. "Ob das wohl der Zwölfender vom letzten Jahr ist?", flüstert Christine. Als hätte jemand am Waldrand den Vorhang hochgezogen – in wenigen Minuten sind rund 150 Hirschkühe auf der Lichtung. "Pst", ruft Paul. Auch wenn die Hirsche mit fortschreitender Brunft immer unvorsichtiger werden, die Hirschkühe sind immer auf der Hut vor möglichem Publikum. Sie können nicht nur besser riechen, sondern auch sechsmal besser sehen als der Mensch.
Am Rand der Lichtung balgen sich ein paar Junghirsche. Aber einziges Ziel des Treibens ist die Arterhaltung. Nur der Superhirsch darf sich mit den Hirschkühen im Rudel paaren. Um seinen Platz zu verteidigen, muss der Platzhirsch Schwerstarbeit verrichten, wobei er kräftig abmagert. Er hat Tag und Nacht, die ganzen sechs Wochen der Brunftzeit, seine beiden Hauptrollen auszufüllen – und das ohne Unterbrechung. Er muss einerseits seine Hirschkühe zusammenhalten und regelmäßig kontrollieren, ob sie in Paarungsstimmung sind. Andererseits muss er seine Nebenbuhler in Schach halten. Diese lauern am Waldrand und warten nur auf eine günstige Gelegenheit, um sich mal eben eine Hirschkuh zu schnappen.
Mächtiges Imponiergehabe
Der Hauptdarsteller betritt die Bühne: Zwischen acht und zwölf Jahre wird er alt sein. Dann hat der Platzhirsch seine beste Zeit. Mit stolz geschwellter Brust und mächtigem Imponiergehabe schreitet er über die freie Bühne. Zumindest die Zuschauer in Starkshorn sind beeindruckt von dem mächtigen Geweih. Es hat mindestens zwölf Enden und eine Spannbreite von mehr als einem Meter.Dass es auch die Hirschkühe beeindruckt, hofft der Hauptdarsteller. Aber in Wirklichkeit haben sie keine Wahl: Sie müssen den Bestplatzierten des Wettbewerbs sang- und klanglos akzeptieren. Irgendwann in ein paar Jahren, wenn seine Kräfte schwinden, wird ein Jüngerer die Bühne betreten. Es geht nicht ohne Kampf. Zwar reicht zunächst das Imponiergehabe, das gewaltige Röhren und der hochgereckte Kopf, um Nebenbuhler von den Hirschkühen fernzuhalten. Aber wenn zwei gleichstarke Hirsche aufeinandertreffen, kommt es zum Kampf.
Sebastian klärt seine Mitgucker auf: "Forkeln nennt man das, wenn sie ihre Geweihe ineinander verkeilen und sich gegenseitig über den Platz schieben." Nicht immer gewinnt tatsächlich der Stärkere. Erfahrung spielt eine Rolle. Nach dem Kampf widmet sich der Platzhirsch dem Liebesspiel mit seinem Harem. Verausgabt er sich dabei zu sehr, kann er schon beim nächsten Kampf seine Hauptrolle gegen einen frischen Rivalen verlieren.
Bühne frei für Deutschlands Superhirsche!
Es ist kurz nach 20 Uhr, als die meisten Zuschauer fröstelnd einpacken. Die Hirsche sind hinter dem Schleier der aufziehenden Nacht verschwunden. Erst morgen treten sie wieder ins Rampenlicht. Mitte Oktober wird das Stück abgesetzt. Die Wege der Stars und Statisten trennen sich. Die Hirsche sind in kleinen Rudeln unterwegs; die Hirschkühe dagegen leben in einer großen Familie und bringen im April oder Mai die Kälber zur Welt. Im nächsten Herbst treffen sich alle wieder in Starkshorn: Bühne frei für Deutschlands Superhirsche!"Dann sind wir auch wieder hier", sagt Paul zu Christine. "Ich bin dann auch dabei, bring mir aber eine Decke mit", prophezeit Sebastian. Die meisten Zuschauer sind schon in ihre Autos gestiegen und weggefahren. Es wird still. Der Superhirsch röhrt. Für ihn ist das Stück heute noch nicht zu Ende.
TIPPS
Jägerlatein: "Rothirsch" heißt die ganze Art, aber der Jäger hat für verschiedene Tiere eigene Bezeichnungen.
Hirsch: männlicher Rothirsch; wird bis zu 1,50 Meter groß und bis zu 260 Kilogramm schwer.
Spießer: einjähriger Hirsch, dessen Geweih nur aus zwei einfachen Hörnern besteht.
Forkeln: Verkeilen der Geweihe.
Der Hirsch ist Deutschlands größtes Landsäugetier und kann bis zu 20 Jahre alt werden. Nur die männlichen Hirsche tragen große, mehr als ein Meter lange Geweihe, die sich reich verzweigen können. 12 bis 16 solche "Enden" sind für einen ausgewachsenen Hirsch normal. Hirsch und Reh sind nicht unmittelbar verwandt.
TIPPS