«Eine der meistgestellten Fragen bei uns im Besucherinformationszentrum ist: Wo kann man Seeadler beobachten?», sagt Ulf Wigger, der Leiter des Naturparks Insel Usedom. Die Antwort des 56-Jährigen: bei den beiden Klappbrücken, die auf die Insel führen, also der Wolgaster Brücke und der Zecheriner Brücke. Und bei der Hubbrücke von Karnin, einer ehemaligen Eisenbahnbrücke. Da sind die Chancen am besten - theoretisch. Der Rest ist Glückssache. «Natur ist Natur, ich kann nichts garantieren.»Der Naturpark Insel Usedom ist im Hinblick auf Seeadler einer der Hotspots in Deutschland, neben dem Müritz-Nationalpark und dem Anklamer Stadtbruch. Dafür gibt es vor allem einen Grund, sagt Wigger: Usedom sei umgeben von fischreichen Gewässern - auf der einen Seite die Ostsee, auf der anderen der Peenestrom mit dem Achterwasser, einer großen Lagune.
In den vergangenen Jahren ist die Anzahl der Brutpaare auf Usedom immer weiter geklettert: 12 waren es 2006, in den vergangenen Jahren durchschnittlich 28. Und 2024 wurden sogar 40 Horst-Standorte gezählt, von denen 31 besetzt waren. Kurzum: Europas größten Greifvogel zu sichten, ist wahrscheinlicher geworden.
Wo die Horste sind, darüber verliert Wigger jedoch kein Wort. Zum Beobachten gebe es bessere Orte, so der Naturschützer. Auch das gegenüberliegende, von der Peene durchzogene Festland zählt dazu. Seeadler haben einen Aktionsradius von bis zu zwanzig Kilometern.
Prachtexemplar von Adler in Sichtweite
Ortstermin I: Der Aussichtsturm von Lassan, eine der kleinsten Städte Mecklenburg-Vorpommerns am Westufer des Peenestromes - gegenüber die Insel Usedom. Grüne Holzschilder weisen den Weg. Das Schilf wiegt sich im Wind, Schwalben umschwirren den Turm. Wigger greift zu seinem Fernglas, auf das er seit seinem Dienstantritt vor 26 Jahren schwört, Marke «Carl Zeiss Jena DDR», und sucht den Himmel leicht unterhalb der Wolkendecke ab. Nichts.
Dann den nahen Waldrand, das obere Drittel der Kiefern. Auch nichts. Nur Mäusebussard und Rotmilan. Und zum Trost ein herrlicher Blick auf den Lieper Winkel, eine abgeschiedene Halbinsel auf der anderen Seite des Peenestroms.
Ortstermin II: Die Hubbrücke von Karnin oder vielmehr deren rostige Reste am Rande des Stettiner Haffs, und damit einer von Wiggers heißen Tipps auf der Insel. Wieder der Schwenk mit dem Fernglas über das breite Wasser und die Bäume am Ufer. Ja, doch, da ganz hinten, Richtung Anklam, das könnte einer sein. «Ein ausgewachsener Seeadler mit weißem Stoß hinten», sagt Wigger und meint die Schwanzfedern. Aber er gibt zu: «Mit bloßem Auge keine Chance, das ist selbst mit dem Glas nicht leicht.»
Ortstermin III: Jetzt die erwähnte Zecheriner Brücke, die Usedom mit dem Festland verbindet, und eine verheißungsvolle Ansage: «Das habe ich noch nie gehabt, dass ich nicht mindestens einen Seeadler gesehen habe an einer dieser drei Stellen.» Und tatsächlich: Schon nach kurzer Zeit lässt sich ein Prachtexemplar von Adler in Sichtweite auf der Spitze eines toten Baumes nieder. Kurz darauf taucht ein zweiter auf.
Es ist ein Paar, sie größer, er kleiner, einträchtig nebeneinander auf zwei frei stehenden Bäumen. Seeadler pflegen eine monogame Beziehung und bleiben bis ans Ende ihrer Tage in ihrem Revier. Um die Zukunft des Bestandes macht sich Wigger aktuell keine Sorgen. 32 Küken wurden 2024 auf Usedom gezählt. «Ein Rekordjahr. Das geht nur, wenn die Lebensbedingungen stimmen.»
Und das heißt vor allem: «Es muss genügend Fraß geben. Man sagt: Der Adler geht zum Fischen raus. Findet er aber ein Reh am Straßenrand, dann favorisiert er dieses Reh.» Der Vogel mit einer Flügelspannweite von bis zu 2,5 Metern ist ein Minimalist, der möglichst wenig Kraft aufwendet. Sein größter Feind ist der Mensch - mit dem Auto, dem Blei in der Jagdmunition, den Windkraftanlagen.
Bootstour auf der Peene
Auch von einem Boot aus stehen die Chancen gut, Seeadler zu sehen. An Bord gehen kann man bei einer ehemaligen Werft in Anklam auf dem Festland. «Hier sind jahrhundertelang Boote gebaut worden», sagt Antje Enke. Gemeinsam mit ihrem Mann Carsten hat sie «Abenteuer Flusslandschaft» gegründet. Zur Flotte gehört die «Ida von Peendamm». Am Steuer auf dem Oberdeck im wind- und wasserdichten Outfit: Jens Günther, zertifizierter Natur- und Landschaftsführer.
Er startet den Motor zu einer Abendtour. «Das sind für mich die schönsten Touren, weil absolute Ruhe ist.» Eigentlich lassen sich Adler eher morgens blicken, weil sie dann Hunger haben. Günther ist trotzdem zuversichtlich. Zu 90 Prozent, sagt er, sieht man bei seinen Touren den großen Raubvogel.
Das Peenetal, auch «Amazonas des Nordens» genannt, ist der jüngste und kleinste Naturpark Mecklenburg-Vorpommerns. Dank des Elektroantriebs schippert das Boot flüsterleise stromaufwärts. Die Geschwindigkeit: fünf bis sieben Kilometer pro Stunde - nichts, womit man Adler erschrecken könnte.
Nach nicht einmal zehn Minuten Fahrt deutet Günther auf eine gut 200 Meter entfernte Baumreihe: der erste Seeadler. Und daneben ein Horst, «ein Neubau» in einer Weide, erfährt man - und noch mehr: So ein Horst hat einen Durchmesser von bis zu zwei Metern, wiegt eine halbe Tonne, muss aber auch starken Stürmen standhalten.
Immer wieder macht Günther die Fahrgäste auf Adler aufmerksam. Mal ist es «ein Teenager, einmal noch mausern, dann ist er geschlechtsreif», mal ein ausgewachsenes Tier im dichten Laub eines Baumes am Ufer. Günther ist schon bis auf zehn Meter an einen Adler herangekommen. «Die kennen uns natürlich.»
Am Ende dieser Tour haben die Fahrgäste acht Adler gesehen. Wenn der König der Lüfte dann auch noch vor ihren Augen abhebt und mit kraftvollen Flügelschlägen majestätisch von dannen zieht, dann ist auch der letzte Fahrgast selig.
Links, Tipps, Praktisches:
Anreise: Mit dem Auto von Hamburg auf der A 20 bis Abfahrt Gützkow und über Wolgast auf die Insel. Von Berlin auf der A 11 und A 20 bis Abfahrt Pasewalk-Süd und weiter über Anklam. Mit der Bahn via Hamburg oder Berlin bis Züssow und weiter mit der Usedomer Bäderbahn (UBB).
Seeadler-Touren: Eine Tour auf der «Ida von Peenheim» durch das Peenetal kann online gebucht werden. In Zinnowitz startet von April bis Oktober an jedem Montag eine sechsstündige Radtour zur Halbinsel Gnitz (naturpark-usedom.de). Gruppen können das ganze Schiff, Familien auch ein Hausboot chartern. Eine dreistündige «Fahrradtour zum Seeadler» im Norden von Usedom, angeboten vom Verein Jordsand, pausiert aktuell, soll aber neu aufgelegt werden. Termine für eine Führung durch den Anklamer Stadtbruch mit seiner hohen Dichte an Brutpaaren vereinbart man am besten mit dem Naturschutzwart und Horstbetreuer Günther Hoffmann unter 0170/8136339. Hoffmann bietet seine Touren das ganze Jahr über an. Im Dezember und Januar lassen sich die Adler mit Glück sogar bei der Balz beobachten. Für alle Touren gilt: Fernglas mitnehmen!
Weitere Informationen: usedom.de