Wohin ich den Blick in Galicien auch richte: die Jakobsmuschel ist unübersehbar. An der Hauswand, auf dem Schild, am Bordstein, ins Fenstergitter eingearbeitet, in Stein graviert, weist sie den Weg und ist ein Blickfang. Ihre Geschichte reicht weit zurück: Vor vielen Jahrhunderten ergab es sich, dass Fischer ihre Jakobsmuscheln an die Domherren verkauften. Als Nachweis und mangels Urkunden in Papierform, wie es heute üblich ist, erhielten Pilger bei Ankunft in Santiago de Compostela besagte Muschel.
Der ideenreiche Doktor Elias Valinia schaffte es in den 1980er Jahren, dass der damals noch etwas verwilderte Jakobsweg kultiviert und für die moderne Wallfahrt ausgestattet wurde. Ihm zu verdanken ist es, dass sich die Jakobsmuschel als das Erkennungszeichen, meist gelbe Linien auf blauem Hintergrund, als eindeutige Wegmarkierung etabliert hat. Von rund 1.000 Pilgern in den 1980er Jahren wird die Zahl in 2022 voraussichtlich auf etwa 400.000 steigen. Neben vielen anderen, gut ausgebauten Wanderwegen gibt es zehn offizielle Pilgerwege, wobei der französische Weg als Klassiker und der portugiesische Weg als Schönheit tituliert werden.
Tommi Alvarellos, der unsere kleine Gruppe führt, begrüßt uns mit den Worten: „Willkommen im Paradies“. Spontan denke ich an tropische Traumstrände und 365 Tage Sonnenschein. Tommis Paradies sieht anders aus: „Bei uns regnet es häufiger als in anderen Regionen Spaniens, deshalb leben wir in der grünen Ecke des Landes.“ Die vielfältige Blumenpracht blühe fast ganzjährig, der Boden sei fruchtbar. „Wir haben rund 200 Flüsse, 2.000 Meter hohe Berge und 1.300 Kilometer Küste, geschmückt mit einer besonderen Inselwelt.“
Mit Tommi fahren wir nach O Grove an die Küste und steigen aufs Boot. Über den Rio Ulla, den wir gleich befahren, wurde den Erzählungen nach der Apostel Jakobus, einer der Jünger Jesus, nach seiner Enthauptung in Jerusalem, im Jahr 44 zurück nach Galicien gebracht. Warum hierher? Der Legende nach hielt Jakobus im heutigen Santiago de Compostela seine Predigten mit dem Ziel, die Menschen zum Christentum zu bekehren. Er kehrte nach Palästina zurück, wurde gefangen und getötet. Seine Jünger beerdigten ihn später genau dort, wo sich heute die Kathedrale von Compostela befindet.
Guter Fisch und weiße Sandstrände
Vor der Zufahrt zum Rio Ulla durchqueren wir zunächst die Ria de Arousa, eine geschützte Bucht ähnlich wie ein Fjord. Dort entdecken wir Bateas. Das sind große, schwimmende und mit Ketten am Boden befestigte Holzpaletten, an denen Seile zur Muschelzucht (Mies- und Herzmuscheln sowie Austern) befestigt werden. Die Qualität der Meeresfrüchte aus dieser Region ist sehr hochwertig. Einige kleine Fischerboote treiben zwischen den Holzpaletten. Der Tagesfang eines jeden Bootes ist staatlich kontrolliert, jeder Fischer muss diesen beim Polizeiboot auf der Rückfahrt wiegen lassen. Was zuviel ist, geht zurück ins Meer.
Weiter geht es, durch eine wunderbare Inselwelt. Feine weiße Sandstrände säumen die Isla Areoso, ein Stück weiter weist ein Leuchtturm den Weg. Wir wollen wissen, wie der Fisch kommerziell weiterverarbeitet wird und verlassen das Boot in Carill. Jesus Lorenzo, Generaldirektor der Manufaktur von Los Peperetes, nimmt sich Zeit für einen Rundgang. Heute wird Thunfisch verarbeitet. In einer Küche sitzen Frauen, die mit flinken Fingern die Fische filetieren und die kleinen Stücke in runde Dosen setzen. Stück für Stück, alles Handarbeit. Die Dosen werden im Anschluss mit Öl oder einer hausgemachten Soße befüllt, mit dem Deckel geschlossen und für die Sterilisierung erhitzt. Mit der Etikettierung findet der Prozess seinen Abschluss. Wie so oft begann alles im kleinen familiären Rahmen. Jesus Mutter kochte gerne, der Vater experimentierte mit Konservendosen. Über die Jahre entwickelte sich daraus ein Unternehmen, dessen Produkte weltweit exportiert werden.
Zurück auf dem Boot fahren wir weiter und finden die Mündung zum Rio Ulla, dem Seepilgerweg. Auf unserem Weg begleiten uns 17 Kunstwerke aus Stein, meist Kreuze, und erinnern an die letzten Fahrmeilen mit den Überresten des Apostels bis sie in Pádron an Land gingen. Jeden Sommer finden auf dieser Strecke Prozessionen mit üppig geschmückten Schiffen statt.
In Pádron steigen wir aus. Der Blick in die Jakobskirche lohnt, hier befindet sich die Steinsäule, an der Engel die Barke nach Ankunft des Leichnams des Heiligen Jakobus vertäuten. Den Erzählungen zufolge wurde er danach auf einen Ochsenkarren gespannt und zu seiner letzten Ruhestätte gebracht. Pádron steht zudem für die Pimentos de Pádron. Die kleinen grünen Bratpaprikas werden häufig als Vorspeise oder Tapa serviert.
Beeindruckende Kathedrale in der Stadt
Mit dem Bus geht es nach Santiago de Compostela. Etwa zwölf Kilometer vor der Stadt führte einst ein Pilgerweg direkt am Grundstück des Pazo Faramello vorbei. Ein Sturm verwüstete den Weg, er musste umgeleitet werden. Das Anwesen aber kann mit Anmeldung besucht werden und ist einen Abstecher wert. Ein Vorfahre des heutigen Herrenhausbesitzers, der Marquis von Piombino, kam als Pilger aus Italien im 18. Jahrhundert nach Galicien. Er verliebte sich in die Gegend und erbaute deshalb mit königlicher Genehmigung 1714 eine Papierfabrik. Bis 1895 war sie in Betrieb. Im frühen 20. Jahrhundert diente das Herrenhaus schließlich als königliche Sommerresidenz. Die Kapelle des Herrenhauses aus dem Jahr 1727 beherbergt ein hölzernes Altarbild, das von einem der berühmten Bildhauer der Kathedrale von Santiago, dem Meister Joseph Gambino, angefertigt wurde.
Zurück in Santiago de Compostela. Als im 9. Jahrhundert der Bischof Theodomir aus Iria Flavia einen kleinen römischen Tempel als das Grab des Apostels Jakobus ausrief, ließ König Alfons II. zunächst eine bescheidene Kirche herum bauen. Die Nachricht über die Entdeckung des Grabes jedoch wurde zu einem der bedeutendsten Ereignisse des Mittelalters. Schon bald darauf begannen die Wallfahrten. Im Jahr 1075 fiel der Entschluss für einen neuen Bau, einer romanischen Kathedrale, die im Verlauf der Jahre erweitert wurde und zu einem beeindruckenden Barockdom heranwuchs.
Wie die Altstadt von Santiago gehört die Kirche seit 1985 zum Weltkulturerbe der UNESCO. Sie besteht aus einem Granitmauerwerk mit lateinischem Kreuz als Grundriss. Beim Betreten über den Obradoiro-Platz können wir direkt einen der größten Kunstschätze des Doms bestaunen. 1188 vollendete Meister Mateo sein sagenhaftes Werk „Pórtico de la Glori“. Durchschreitet man das Tor, richten sich all unsere Blicke auf den überaus prachtvollen Hauptaltar, der sich direkt über dem Grab des Apostels befindet. Mittags und abends finden tägliche Pilgermessen statt, bei der seit diesem Jahr die Pilger namentlich genannt werden. Auf dem mit Granitplatten stufenförmig belegten Dach der Basilika zu gehen, ist wie der Blick auf Meister Mateos Werk, ein Privileg im Rahmen einer Führung. Dort stehend und mit dem Bewusstsein, dass Santiago de Compostela seit dem Mittelalter genauso wie Jerusalem und Rom eine heilige Stadt ist, genießen wir zum Abschied einen wunderbaren Ausblick.
INFORMATION
Kulinarik: in Santiago de Compostela: Casa Marcelo, exquisites Essen hat seinen Preis. Den besten Käsekuchen gibt es bei O Sendeiro.
Erleben: Amare Tourismus organisiert ab O Grove Fahrten durch die Inselwelt: www.amaretourismonautico.com; Monte Santa Trega mit seinen über 2.000 Jahre alten Bauten: www.turismoaguarda.es; Ausflug auf die Inseln Cies, eine kleine Inselgruppe nahe der Stadt Vigo. Der Archipel besteht aus drei unbewohnten Inseln: Monteagudo, Do Faro und San Martiño. Ab Vigo, in der Nebensaison auch ab Baiona und Cangas. Camping möglich. Unbedingt vorbuchen. Die Brücke Ponte International de Tui über dem Fluss Minho. Pontevedra, die Stadt mit jungen Leuten und Familien. Die gesamte Altstadt besteht aus einer Fußgängerzone, nach San- tiago de Compostela der Ort mit der größten Altstadt Galiciens. Zeit zum Shoppen mitbringen!
Wandern und Pilgern: Bis zum Ende des Mittelalters war die Costa da Morte, die Todesküste, das Ende der bekannten Welt. Wer Santiago de Compostela erreicht hat, wandert nach der Pilgermesse häufig noch weiter: www.caminodesantiago.gal/de; Der Camino dos Faros, ein 200 Kilometer langer Wanderweg entlang der Todesküste, wird auch Leuchtturmroute genannt. Der Weg für Geübte und Sportliche führt über Felsen und Strand. www.caminodosfaros.com; Der Camino Portugues ist der zweitbeliebteste aller Jakobswege nach dem bekannten Camino Francés. Er führt über 250 Kilometer Länge ab Porto bis nach Santiago. www.camino-portugues.de