Schweiz

Ein ganzes Dorf wird zum Hotel

In einem Dorf im Tessin entsteht ein Albergo Diffuso, ein „verstreutes Hotel“. Die Dorfstraßen werden dabei zu Hotelfluren.

Großes Panorama: Corippo liegt im Tessiner Verzascatal. Der Luxus besteht hier in der Einfachheit. Die Verzasca durchfließt das gesamte Tal, bis sie unterhalb von Tenero in den Lago Maggiore mündet. | © Corippo Tourismusverband

27.09.2022 | 28.09.2022, 10:56

Corippo. Corippo muss man sich erarbeiten. Die Bushaltestelle liegt 15 Minuten entfernt und die wenigen Parkplätze sind eigentlich immer belegt, also bleibt der Weg hinauf zu Fuß. Es ist steil hier. So steil, dass man den Hennen früher angeblich ein Säckchen umgehängt hat, damit die Eier dort hinein und nicht den Berg hinunter kullern.

Corippo liegt am Hang, abseits der Straße durchs Verzascatal – keine zehn Kilometer von der oft fotografierten Römerbrücke Ponti di Salti in Lavertezzo entfernt, wo im Sommer die Touristen um die besten Selfie-Plätze rangeln, und doch in einer komplett anderen Welt. Sie scheint im 19. Jahrhundert stehen geblieben: ein Historiengemälde in Schiefergrau, mit den Rustici, den traditionellen Bauernhäusern aus Granitgestein, allein der Glockenturm der Dorfkirche in Altrosa bringt ein bisschen Farbe ins Spiel.

Es lebten mal 300 Menschen in Corippo, jetzt sich es noch zehn, neun von ihnen im Rentenalter – ein aussterbendes Dorf. Doch Corippo wird gerade reanimiert. Das gesamte Dorf soll sich in ein Albergo Diffuso, ein „verstreutes Hotel“, verwandeln. Die ersten Gäste sind bereits da.

Ein verstreutes Hotel – was soll man sich darunter vorstellen? Samantha Bourgoin von der Stiftung „Fondazione Corippo“, die sich den Erhalt des Dorfes zum Ziel gesetzt hat, erklärt es: „Die Hotelzimmer sind in den Rustici untergebracht. Die Dorfstraßen sind die Hotelkorridore. Und die Osteria, das Dorfgasthaus, ist Rezeption und Speisesaal“. Das ganze Dorf wird also quasi zum Hotel.

Zwölf Zimmer sind insgesamt entstanden, neun in den Rustici und drei über der Osteria. Das Dorfgasthaus liegt da, wo ein Gasthaus hingehört, nämlich mittendrin. Ist es doch nach der Kirche das wichtigste Gebäude im Dorf, für manchen sogar wichtiger als das Gotteshaus.

Ansonsten gibt es rund 60 Rustici in Corippo: kleine Häuser mit winzigen Fenstern und schiefen Holzbalken. Ihre Grundfläche beträgt gerade mal 15 Quadratmeter, ein Raum pro Etage, mehr passt nicht. Zehn Häuser funktionierten einige Schweizer bereits zu Feriendomizilen um. Doch ein Großteil der Rustici steht leer. Lost places, wo der Putz von den Wänden bröckelt, einige mit ein paar Möbelstücken, die die letzten Bewohner zurückgelassen haben: hier ein Bettgestell, dort ein wackeliger Tisch, die letzte Flasche Wein, ein Hustensaft, der niemandem mehr hilft.

Hotelprojekt hat früh neugierig gemacht

Die Fondazione Corippo hat mit Hilfe von öffentlichen Fördergeldern, Spenden und Crowdfunding die Osteria sowie fünf dieser Rustici gekauft. Im Mai 2020 begann man mit der Sanierung, jetzt, gut zwei Jahre später, können die ersten Gäste dort schlafen.Bereits 2017 wurde das Albergo Diffuso mit dem „Innovations-Award“ für das innovativste Hotelprojekt in der Schweiz ausgezeichnet. Reportagen darüber erschienen sogar in der New York Times. Was dazu führte, dass Leute im Gemeindebüro anriefen, um ein Hotelzimmer für den Sommer zu buchen. Hätten sie den damaligen Zustand der Häuser gesehen, hätten sie nicht angefragt.

Die geplante Eröffnung hat sich immer wieder nach hinten verschoben. Zunächst mussten alle Eigentumsverhältnisse geklärt werden. Was sich als kompliziert herausstellte, weil manche Erben außerhalb Europas leben. Dann haperte es am Geld. Rund eine Million von 4,3 Millionen Franken musste die Stiftung über Spenden aufbringen. Und zuletzt, als die Baustelle in vollem Gange war, haben die Handwerker oft wochenlang auf Material gewartet.

Jeremy Gehring hat die Zeit genutzt und derweil schon mal die Speisekarte aufgestellt. Er und seine Frau Désirée übernehmen die Osteria, und damit die Schaltzentrale des Albergo Diffuso. Die beiden sind Profis. Sie hat die Hotelfachschule absolviert. Er ist Koch, hat auch in der Sterne-Küche gearbeitet. Das junge Paar zieht ins alte Pfarrhaus gleich neben der Osteria, zusammen mit Söhnchen Ernesto (2 Jahre alt) und Hund Zorro, ein ganz friedlicher Geselle übrigens, trotz seines Respekt einflößenden Namens.

Im Albergo werden lokale Gerichte serviert. „Nichts Verrücktes“, sagt Jeremy, „einfach und gut. Etwas, das zum Ort passt“: Risotto und Cappellacci (mit Ricotta gefüllte Pasta), viel Gemüse. Zum Frühstück gibt’s frisch gebackenes Brot, mit dem Mehl aus der Dorfmühle, die gerade instand gesetzt wurde. Und jetzt im Herbst, kommen Maroni (Esskastanien) auf den Tisch, frisch geröstet aus dem Grà, dem Dörrhaus neben der Mühle.

Das Hoteldorf ist in den Augen der Stiftung die einzige Möglichkeit, diesen Ort zu erhalten. Die ursprüngliche Idee, die Häuser als Erstwohnsitze anzubieten, scheiterte mangels Interesse. Auch der Plan, ein Reka-Feriendorf zu errichten, wurde zu den Akten gelegt. Zu massiv wären die Eingriffe gewesen, nicht zu realisieren, denn seit 1975 steht Corippo unter Denkmalschutz.

Die Dorfbewohner lebten früher von der Landwirtschaft, mehr schlecht als recht. Weshalb die meisten irgendwann wegzogen, um woanders Arbeit zu suchen. Oder weil es für sie in hohem Alter zu beschwerlich wurde, an einem Ort ohne Lebensmittelladen und ohne Arzt zu leben. Der Jüngste im Dorf und der einzige, der noch berufstätig ist, heißt Claudio Scettrini. Der Forstarbeiter war bis 2017 Bürgermeister der damals kleinsten Gemeinde der Schweiz. Seit der Gebietsreform gehört Corippo zur Großgemeinde Verzascatal. Scettrini kann sich nicht vorstellen, woanders zu leben. Seine Freundin bleibt dagegen lieber unten im Tal wohnen.

Der Luxus ist das Einfache

Für Jeremy und Désirée ist Corippo genau der Ort, von dem sie geträumt haben. Trotz aller Bedenken, die viele Freunde äußern: ein Leben allein unter Senioren, ohne Geschäfte, ohne Kita. Samantha Bourgoin von der Fondazione Corippo ist von der Anziehungskraft des Dorfs überzeugt: „Corippo hat eine ganz besondere Ausstrahlung. Die Stille des Ortes überträgt sich auf die Menschen.“

Der Luxus hier sei das Einfache. Einen Pool wird es in Corippo nicht geben. Baden kann man in den Gumpen, die die Verzasca über die Jahrhunderte geschaffen hat. Der nächste dieser natürlichen Whirlpools liegt keine fünf Minuten vom Gasthaus entfernt. Aufs Internet müssen die Gäste allerdings nicht verzichten. „Das wird heutzutage einfach erwartet“, so Samantha.

Die Gästezimmer sind minimalistisch eingerichtet – ein Bett, ein Kleiderständer, kaum mehr. Mit dem neu eingebauten Bad und der Heizung ist es im Vergleich zum ursprünglichen Zustand dann doch luxuriös. 175 Schweizer Franken kostet das Doppelzimmer pro Nacht, mit Frühstück. „Ich bin sicher, dass es genug Leute gibt, die so etwas suchen“, sagt Samantha, „Menschen, die die Natur schätzen. Die glücklich sind, wenn sie gutes Essen und die Ruhe genießen können.“

Jeremy und Désirée haben die Osteria zunächst für fünf Jahre gepachtet. Im Tessiner Sommer und im Herbst, wenn die Wanderer auf den herrlichen Wegen ringsum unterwegs sind, wird das Gasthaus sicher voll sein. Die Herausforderung ist der Winter und die Monate im Frühjahr. Da denkt Jeremy an Hochzeitsgesellschaften und an Seminare: „Yoga, Coaching, gesunde Ernährung, so etwas“. Über das Dorfgasthaus soll auch die Vermietung der Ferienhäuser, die Schweizer Privatleute renoviert haben, laufen. Neben Jeremy und Désirée kümmern sich fünf Mitarbeiter ums Wohl der Gäste. Wer weiß, vielleicht findet der ein oder andere von ihnen Gefallen daran, in Corippo zu leben und das Dorf abermals zu verjüngen.

INFORMATION


Lage: Corippo ist ein kleines Bergdorf im Tessiner Verzascatal, auf halber Strecke zwischen Vogorno und Lavertezzo. Anreise: Auto: 850 km über A 5 und E 35 bis Ausfahrt Bellinzona-Süd A2 ins Verzascatal. Ab der Schweizer Grenze fallen Mautgebühren an.Zug: von Bielefeld Hbf nach Tenero, von dort mit dem Bus, insgesamt rund 11 Stunden. Wandern: Auf dem Sentiero Verzasca kann man das gesamte Tal erwandern. Der Weg ist 24 Kilometer lang und folgt dem Flusslauf. Darüber hinaus gibt es zahlreiche andere Wanderwege.Übernachten: Eine Übernachtung im Albergo Diffuso in Corippo kostet zwischen 160 und 195 Schweizer Franken für zwei Personen im Doppelzimmer. Die Halbpension kann man für 45 Franken pro Person dazu buchen. www.corippoalbergodiffuso.chAm Lago Maggiore gibt es zahlreiche Unterkünfte. Sehenswert: Auch James Bond hat zur Popularität des Verzascatals beigetragen. In „Golden Eye“ stürzte sich Pierce Brosnan (oder ein Double) 1995 am Gummiband von der Staumauer bei Vogorno. Der Stausee dient als Speichersee und wird für die Stromerzeugung genutzt. Mutige können einen Goldeneye-Bungee-Jump buchen. Die Sprunganlage befindet sich in der Mitte der Mauer, sie ist die höchste stationäre Bungee-Anlage der Welt. Kosten: 255 Schweizer Franken. Info: www.fondazionecorippo.ch, www.ticino.ch, www.myswitzerland.com