Deutschland

Hinauf wie vor 200 Jahren

Landvermesser Josef Naus war der erste namentlich bekannte Mensch, der auf Deutschlands höchsten Berg stieg. Dass das kein Spaziergang war, erleben wir auf seiner Originalroute.

„Da kimmt ma ned rauf": Welchem Irrtum die Einheimischen jahrtausendelang unterlagen, zeigen die Bauten oben auf dem Gipfel. Zwei Stunden nach diesem Foto haben auch wir es geschafft. | © Ludger Osterkamp

Ludger Osterkamp
25.07.2020 | 25.07.2020, 06:00

Wenn man es genau nimmt, waren die Erstbesteiger der Zugspitze zwar mutige Männer, aber sie haben es versemmelt. Ihr Auftrag war eindeutig gewesen, und er kam direkt vom König. Maximilian I. hatte vom „Königlich Bairischen Topographischen Bureau" nichts weniger als Gewissheit verlangt: War dieser Berg da wirklich die höchste Erhebung seines Landes? Doch als Vermessungsingenieur Josef Naus und seine Mannen am 27. August 1820 um 11.45 Uhr nach langen Mühen den Westgipfel erreichten, konnten sie diesem Auftrag nicht nachkommen: Das schlechte Wetter verstellte jegliche für die Triangulation nötige Sicht. „Schon nach 5 Minuten wurden wir von einem Donnerwetter mit Schauer und Schneegestöber begrüßt und mussten unter größten Gefahren die Höhe verlassen", so notierte es Naus später in seinem Tagebuch. Es sei nur noch Zeit gewesen, „einen kurzen Bergstock mit einem rothen Sacktuch" ins Gipfeleis zu rammen, „zum Beweise, dass wir dagewesen".

Eine solche Eile haben wir an diesem herrlichen Spätsommertag 2019 nicht. Zu siebt haben wir den Gipfel erklommen und dabei, anders als Naus, weder„mehrfache Lebensgefahren und außerordentliche Mühen" ausstehen müssen noch die Angst durchlitten, im Falle des Scheiterns majestätischen Zorn auf uns zu laden. Dafür, leider, sind wir nicht alleine oben. Ganz und gar nicht. Die Menge an Touristen, die uns aufnimmt, geht in die Tausende, es ist ein Gewimmel an Stimmen und Goretex-Jacken, das einem nach dem stundenlangen, fast einsamen Aufstieg schwindelig wird. Ein Foto allein unterm Gipfelkreuz? Unmöglich. Ein Innehalten und Genießen? Nicht bei diesem Trubel. Allein die ultramoderne Zugspitzbahn, eine der drei Gipfelseilbahnen, schaufelt pro Jahr 1,2 Millionen Menschen nach oben.

Der Anteil jener, die zu Fuß auf das Dach Deutschlands gelangen, ist winzig. „Das liegt im Promillebereich", schätzt Philipp Holz, Tourismusmanager der Zugspitz-Region. Wiederum weniger versuchen es wie wir: Die Besteigung des Berges auf der Originalroute, auf jenem Weg also, den einst Naus und seine Adjutanten gingen, um den König glücklich und sich selbst berühmt zu machen.

Es war ein gefährliches Unterfangen damals. Schon der Name macht das klar: Die Zugspitz – das „e" kam erst 1836 hinzu – leitet sich vom alemannischen „Zug" ab, was seinerzeit lawinendurchzogenes Gelände bezeichnete. Die örtliche Bevölkerung hatte mächtig Respekt, raunte von einem „Zuggeist", der den Berg bewache; allenfalls Jäger, Hirten und Schmuggler trauten sich gelegentlich in dessen Gipfelzone. Doch dann kamen Napoleon, die Politik und die Erkenntnis, dass direkt über dem Gipfel die Grenzlinie zwischen Bayern und Tirol verläuft. Höchste Zeit für eine Kartierung!

Auserkoren wird Naus, dieser 27-jährige Leutnant. Als Nordtiroler war er 1813 in die bayerische Armee eingetreten, um Karriere zu machen. Nun wittert er seine Chance. Naus holt sich einige fitte Gesellen an seine Seite, darunter den Offiziersburschen und Messgehilfen Maier sowie den Bergführer Johann Tauschl. Wochenlang erkunden sie das Terrain und unternehmen riskante Expeditionen über den Ferner, bis sie am 27. August 1820 den Angriff wagen. Um vier Uhr morgens verlassen sie die Angerhütte, eine karge Hirtenherberge, und stapfen über Zugspitzplatt, Schneeferner und Westgrat nach oben: Alpingeschichte.

Für uns klingelt der Wecker später. Um 7 Uhr brechen wir auf, nach einer ruhigen Nacht in der Reintalangerhütte (1.366 m). Tags zuvor waren wir in Garmisch-Partenkirchen gestartet, jenen seltsamen, 1936 von den Nazis zu den Olympischen Spielen künstlich zusammengezwungenen Ort aus einer alten germanischen (Garmisch) und einer alten römischen (Partanum) Siedlung. Wir hatten gemogelt und waren die erste Etappe durch die Partnachklamm spaziert. Es wäre sträflich gewesen, auf dieses spektakuläre Erlebnis zu verzichten, aber natürlich hatten Naus und Adjutanten seinerzeit irgendeinen Waldpfad genommen, um ins Reintal zu gelangen – runter in die Partnachklamm kletterten nur Arbeiter, deren waghalsiger Job es war, Schlagholz gen Tal zu triften.

Doch nun decken sich unsere Routen. Zu elft ziehen wir los, vor uns liegen 1.571 Höhenmeter und 10,8 Streckenkilometer. Die Tour erfordert Kondition und ist anspruchsvoll, wegen der seilversicherten Passagen auf dem letzten Teilstück ist sie als schwarz markiert. Doch erstmal ist, wie tags zuvor, Genusswandern dran. Wir folgen dem Lauf der Partnach, deren Wasser so sauber, so klar ist, dass sie diesem langgezogenen Tal den Namen Reintal gegeben hat. Nach einer guten Stunde erreichen wir den Talschluss; von dort aus gewinnen wir über eine Flanke des Zugspitzplatts stetig an Höhe und sehen wenig später die Knorrhütte (2.051 m). Durst! Wir bestellen einen halben Liter Holunder-Schorle, kurz: Holler. Das Zeug schmeckt fantastisch. Danach schrauben wir uns über schmale Serpentinen weiter das Platt hinauf. Der Weg ist gut zu gehen; Josef Naus dürfte es vor 200 Jahren beschwerlicher gehabt haben.

Wir sind flott unterwegs, bald öffnet sich der Blick. Vor uns taucht das Sonn-Alpin auf, Gletscherrestaurant und Seilbahnstation (2.576 m): Adieu Abgeschiedenheit, hallo Rummel! Wer mag, kann hier allzeit mit Schlitten oder Skiern den kümmerlichen Rest des nördlichen und südlichen Schneeferners befahren, zwei der verbliebenen fünf deutschen Gletscher; man müsste sich aber beeilen, denn obwohl man sie sie im Sommer teils mit Matten abdeckt, schrumpfen sie derart rapide, dass sie wie der Watzmanngletscher oder das Blaueis am Hochkalter in zwei, drei Jahrzehnten verschwunden sein dürften. Naus, der sich einst mühsam durch hohen Schnee kämpfen musste, würde es kaum glauben wollen.

Vier von uns sind unserem Bergführer Karl nicht trittsicher genug. Er bittet sie nicht, sondern er ordnet ihnen an, für das letzte Stück die Gipfelseilbahn zu nehmen. Zwei protestieren, doch Karl insistiert – vermutlich zu Recht, wie sich rasch herausstellt. Wir sieben Verbliebenen steigen direkt in eine steile Schutt- und Schrofenflanke ein. Unsere Wanderstöcke packen wir weg, sie helfen nicht mehr, oft stoßen wir auf Seilpassagen, wo wir unsere Hände brauchen. Diese letzten 400 Meter sind schwierig und jene, die Arglose allzu oft unterschätzen. Selbst Naus brauchte zwei Anläufe.

Wer bergwandert und sich Gipfel vornimmt, auf die auch Seilbahnen führen, kennt das: Eben noch Ruhe, Anstrengung und Konzentration, plötzlich Remmidemmi. Doch so eklatant wie hier erlebt man diese Diskrepanz wohl nirgends. Deutschlands höchster Berg, ein 200 Millionen Jahre altes Riff aus kalkhaltigen Meeresablagerungen, ist beinah so gut erschlossen wie die Münchener Innenstadt; er hat eine eigene Postleitzahl und ist Schauplatz für Kongresse, Selfies, Kunstausstellungen und Verabredungen im schicken Panorama-Restaurant. Hier oben finden sich Richtfunkanlagen, eine Messstation des Deutschen Wetterdienstes und ein Gebetsraum für Muslime – jeder vierte Gipfelgast ist arabischer Herkunft. Der Westgipfel, in dessen Firn Josef Naus einst seinen Stock bohrte, existiert derweil schon gar nicht mehr: Die Nazis hatten ihn 1938 gesprengt, um ebenes Gelände für die Flugsicherung zu haben – den Turm zu bauen, schafften sie freilich nicht mehr. Auch der Mittelgipfel ist verschwunden – 1931 gewichen für den Bau einer Seilbahnstation und etliches andere.

Einzig der Ostgipfel ist noch in seinem Naturzustand erhalten. Darf man sagen, man hat ihn erklommen? Man darf. Vermutlich sind es nur 20, 30 Höhenmeter, die aus der schmalen Senke vom Mittelgipfel wieder nach oben führen, doch kurioserweise sind sie nahezu ungesichert. An trubeligen Tagen wie heute entwickeln wir auf dem Korridor zum goldenen Gipfelkreuz schon mal Angst vor einem unachtsamen Rempler. Diese Sorge plagte Naus gewiss nicht.

INFORMATION


Gut zu wissen

Geschichte
Josef Naus gelang am 27. August 1820 die erste nachgewiesene Besteigung der 2.962 Meter hohen Zugspitze. Eine erst vor wenigen Jahren entdeckte Karte von 1770 legt zwar nahe, dass andere schon vor ihm oben waren; sicher ist das allerdings nicht.

Aufstieg
Drei Routen führen nach oben: Die vom Nordosten über das Höllental ist nur für erfahrene Bergsteiger geeignet, die von Westen von Ehrwald aus ist steil und landschaftlich eher reizlos, die von Südosten aus dem Reintal ist die schönste und meistbegangene.

Jubiläum
In welcher Form die Region das Jubiläum feiert, hängt von dem weiteren Verlauf der Corona-Pandemie ab. Infos über Touren &