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"Cyberpunk 2077: Phantom Liberty" im Test: Es kaschiert nicht das größere Problem

Unser Autor spielt das vorbildlich umfangreiche Add-on zu CD Projekts Mammutprojekt von 2020 furchtbar gern. Trotzdem stimmt ihn die ganze Entstehungsgeschichte – und das Medienecho darauf – ziemlich nachdenklich.

Der neue Star im „Cyberpunk“-Universum: Solomon Reed, gespielt von Idris Elba. | © CD Projekt

07.10.2023 | 07.10.2023, 11:00

Nachtreten, das lernt man im Fußballverein, ist das Letzte. Und wer meint, dass dieser Text dazu da ist, der irrt. Ich habe viel übrig für die Art, wie mein polnischer Lieblingsentwickler CD Projekt sein Cyberpunk-Universum wieder ins rechte Licht rücken will. Denn so katastrophal der Launch von "Cyberpunk 2077" vor knapp drei Jahren war, so umfangreich ist der Wiedergutmachungsversuch. Und das muss man erst einmal anerkennen, weil es beileibe nicht die Regel ist, dass sich Entwickler an ihr kaputtes Spiel noch einmal dransetzen, nachdem es alle schon gekauft haben.

Mit Blick auf den Gesamtzustand der Branche ist all das aber trotzdem ein Tropfen auf den heißen Stein. Das versuche ich an den folgenden drei Punkten zu verdeutlichen. Und: ja, auch wer nur wissen will, ob sich die Rückkehr nach Night City mit "Phantom Liberty" lohnt, sollte danach schlauer sein. Damit fangen wir an.

Wie gut ist Phantom Liberty?

Unsere neue Helferin: Die Netrunnerin Songbird will eine Heilung gegen unser terminales Problem haben. Blufft sie nur? - © CD Projekt
Unsere neue Helferin: Die Netrunnerin Songbird will eine Heilung gegen unser terminales Problem haben. Blufft sie nur? | © CD Projekt

Das können wir nämlich schnell abhandeln. Dass CD Projekt starke Story-Erweiterungen kann, ist seit den Add-ons zu "The Witcher 3" kein Geheimnis mehr. Auch in "Phantom Liberty" sind wir versunken, weil die Geschichte um ein vermeintliches Heilmittel für unsere tödlich "chipfizierte" Hauptfigur V mit ihren politischen Intrigen, ruhigeren Zwischentönen und dem neuen Ende einfach hervorragend durchkomponiert ist.

Klar, der neue Bezirk Dogtown, in dem ein zum Autokraten mutierter Ex-Militär mit eiserner Faust herrscht, bietet auch allerlei Nebenbeschäftigungen. Am meisten Spaß macht es aber, stringent der Hauptstory zu folgen. Denn die räumt immer wieder längere Auszeiten ein, in denen wir dann bequem die gesammelten Nebenquests angehen können. Und ich sage ganz ehrlich: Night City war für mich schon im Hauptspiel nur die Kulisse für die tollen Geschichten, die ich vor ihrem Hintergrund erlebt habe.

Bei der Technik haben die Entwickler die ganz grobe Schere angesetzt. Alles, was nicht funktioniert hat, wurde rigoros weggeschnitten. Und das war dann ja doch eine ganze Menge. Cool: Ob neues Spiel von Beginn an, Weiterspielen mit einem alten Spielstand, Direkteinstieg ins Add-On – das Spiel lässt uns machen, wie wir mögen.

Das Skillsystem präsentiert sich zudem in völlig neuem Gewand. Für meinen Geschmack hantiere ich hier zwar immer noch zu häufig mit Verbesserungen à la "fünf Prozent mehr Schaden". Aber "Cyberpunk" war und ist eben ein Rollenspiel. Das jetzt, in Version 2.0, endlich auch technisch weitgehend so läuft, wie es mal versprochen war. Und damit, liebe Chooms, wären wir am Punkt, an dem das Gummi auf den Asphalt trifft.

Was ist jetzt also das Problem?

Denn an drei wichtigen Punkten habe ich ein Problem mit diesem Add-on. Und für nicht jeden davon ist Entwickler CD Projekt selbst verantwortlich. Drüber sprechen müssen wir trotzdem.

1. Dass CD Projekt für die erste überwiegend fehlerfreie Version seines 80 bis 100 Euro teuren Produkts je nach Blickwinkel zwischen einem und drei Jahren nach Release brauchte, ist aus Konsumentensicht auch heute noch eine Frechheit. Die Gründe für den indiskutablen Zustand der Ursprungsversion haben etliche Hintergrundberichte und zuletzt auch eine ARD-Doku umfangreich aufgearbeitet: zu wenig Entwicklungszeit, ein falscher Fokus während der Entwicklung, der Börsennotierung geschuldeter Druck durch die Anteilseigner. Das für sich ist weder ein Skandal noch besonders unüblich. Unfertige Spiele sind keine Seltenheit.

Was die Sache so schal schmecken lässt, ist die Tatsache, dass der Zustand des Spiels den Entwicklern – rechnet man die ganzen Verschiebungszeiträume zurück – mindestens ein Jahr vor Veröffentlichung bekannt war. Zu diesem Zeitpunkt lief aber die Marketing- und nicht zuletzt auch die Vorbesteller-Maschinerie auf Hochtouren.

So schaffte es CD Projekt, die immensen Produktionskosten von geschätzten 300 Millionen Euro für sein schwerst fehlerhaftes Produkt praktisch zum Release-Tag refinanziert zu haben. Dass es ein Großteil der Spieler kaum einmal problemlos spielen konnte, wird da in der Kategorie „Kollateralschaden“ gelaufen sein. Sicherlich waren die Entwickler nicht zufrieden mit ihrem Spiel. Aber man will als Entwickler, zumal als börsennotiertes Unternehmen, ja erst einmal vor allem weiter existieren.

2. Mit der Art, wie über das Add-on und damit auch über das "neue" Hauptspiel berichtet wird, habe ich mindestens ein Hühnchen zu rupfen. Mit Version 2.0, die zeitgleich mit "Phantom Liberty" erschienen ist, sei "Cyberpunk 2077" nach drei Jahren endlich das Spiel, das CD Projekt mal versprochen habe, las man zeitweise bei einem der größten deutschen Gaming-Magazine, der "Gamestar". Eine differenziertere Aufarbeitung folgte zwar, aber dem Schema "Endlich fertig, toll" folgten zum Release-Tag etliche Reviewer.

Dass das Spiel jetzt endlich fertig ist, steht gar nicht infrage. Aber einen Entwickler dafür zu feiern, dass er nur drei zusätzliche Jahre gebraucht hat, um sein veröffentlichtes Spiel endlich in einen vollumfänglich problemfreien Zustand zu bekommen und ein – zugegeben: hochklassiges – Add-on zu liefern, finde ich mindestens fragwürdig.

Denn die meisten Spieler schauen eben doch nur zu Release nach, ob das heiß erwartete Spiel was taugt. Fällt Journalisten hinterher noch eine zweite Perspektive ein, bekommen die nicht unbedingt noch einmal so viele potenzielle Käufer mit. Ein undankbarer Spagat, der nicht neu ist, aber umso mehr Sorgfalt erfordert.

3. All diese Kritik wäre nur halb so nötig, wenn die Taktik der Entwickler, sich über Vorbestellungen zu finanzieren, nicht so zuverlässig funktionieren würde. Der Hype treibt uns Kunden regelmäßig zum frühzeitigen Kauf, weil wir es einfach nicht erwarten können. Im Fall solcher Spielewracks, wie es "Cyberpunk 2077" zum Release war, ist das besonders ärgerlich.

Sogar Sony sah das so und ließ das Spiel vorübergehend aus dem Playstation-Store entfernen, ein beispielloser Vorgang. Da aber war natürlich das Gros der Bestellungen längst eingegangen und das Geld geflossen. Ein Lerneffekt auf Spielerseite ist nicht erkennbar – und so wird sich auch diese Praxis wohl erst einmal nicht ändern.

Fazit

Neue Spezialisierungen machen die ohnehin schon brachialen Kämpfe nochmal eine Ecke wuchtiger. - © CD Projekt
Neue Spezialisierungen machen die ohnehin schon brachialen Kämpfe nochmal eine Ecke wuchtiger. | © CD Projekt

Bitte nicht falsch verstehen: Wir fahren hier nicht die urdeutsche "Strafe muss sein"-Schiene. Spieleentwicklung ist ein grausamer Prozess des Ausprobierens, Verwerfens und wieder von vorne Anfangens. Das so manches Spiel überhaupt erscheint, darf man als mittelschweres Wunder betrachten. Damit das also ganz klar ist: Die Welt der Spiele ist mit "Phantom Liberty" eine bessere als ohne. Was hier an erzählerischer und kreativer Energie drinsteckt, reicht für mehrere Spiele. Und die zahlreichen Updates zeigen echten Willen zur Veränderung.

Wie bereitwillig wir als Konsumenten die katastrophale Geschichte des Hauptspiels vergessen, liegt mir aber schwer im Magen. Immerhin wurden die Entwickler in den USA verklagt, weil Investoren behaupteten, CD Projekt habe sie über den Zustand von "Cyberpunk 2077" im Unklaren gelassen. Auf den Rechtsstreit klebte das Unternehmen im Januar zwar ein großes Geldpflaster, Käufer sahen davon aber natürlich nichts. Nur wer das Spiel zurückgab, bekam sein Geld wieder – eine Zeit lang.

Unfertige Produkte auf den Markt zu werfen, weil das Marketing genug Hype generiert hat, um die Kosten durch die Vorbestellungen wieder reinzuholen, halte ich jedenfalls für die betriebswirtschaftlich logischste, aber gleichzeitig schäbigste Art, mit seinen Kunden umzugehen. Denn nicht jeder Entwickler hat die Mittel, die Zeit oder überhaupt den Willen, sein verkorkstes Spiel noch einmal so herumzureißen, wie CD Projekt. Dafür gebührt ihnen aufrichtige Anerkennung. Aber so weit hätte es gar nicht kommen dürfen.

"Cyberpunk 2077: Phantom Liberty" ist erhältlich für Playstation 5, Xbox Series X/S und PC, kostet rund 30 Euro und ist freigegeben ab 18 Jahren.