Unser Autor kann den 1. Juli kaum abwarten. Dann nämlich beginnt die "Tour de France", das größte Radrennen der Welt. Aufgewachsen mit Jan Ullrich, Lance Armstrong und Co. hat ihn – trotz der unschönen Seite des Dopings – diese Quälerei, die Jagd nach Trikots und Etappensiegen immer extrem fasziniert. Und wie cool wäre es bitte, das riesige Radsportevent an der eigenen Konsole nachzuspielen?
Die Möglichkeit gibt es schon seit vielen Jahren, denn der Entwickler "Cyanide Studios" bringt regelmäßig neue Ableger der "Tour de France"-Spiele auf den Markt. Bisher habe ich mich noch nicht dran getraut, Radfahren war für mich entweder Fernsehsport oder aktives Hobby an der frischen Luft. Bis jetzt, denn nun habe ich mein Rennrad gegen den Playstation-5-Controller eingetauscht und bin selbst in die Rolle des sich quälenden Radprofis geschlüpft.
Dabei werde ich schnell auf den Boden der Tatsachen geholt. Natürlich habe ich mich vorher informiert, auch um einordnen zu können, inwieweit sich das Spiel von seiner Vorgängerversion unterscheidet. Hauptkritikpunkt war durchgängig die speziell für Next-Gen-Konsolen unzureichende Grafik. Und: ja, auch wenn ich damit gerechnet habe, enttäuscht bin ich trotzdem. Andere Spiele in der Sportwelt machen es vor (ich denke da speziell an die Formel-1-Reihe), und ich erwarte hier ja auch gar keine Wunderdinge, aber die Optik der Radprofis und wie sie auf den Rädern sitzen, ist schon zum Start ein Minuspunkt für das Spiel. Ein Fahrer gleicht hier quasi dem anderen.
Radprofi dank Tutorial
Die Umgebungen der Strecken sind zwar abwechslungsreich, aber optisch ebenso ausbaufähig. Und auch die Zuschauer schaffen es – vor allem beim Herzstück: den Bergankünften – nicht, für Atmosphäre zu sorgen. Viel zu wenig Detailarbeit steckt in ihnen. Außerdem hätte ich mir gewünscht, dass man deutlich zu spüren bekommt, wenn es ins jeweilige Etappenfinale geht. Mehr Zuschauer an der Strecke, die den Fahrbereich immer enger machen und uns Fahrer mit allem, was sie haben, anfeuern. Wie bei der echten Tour.
Und trotzdem macht mir das Spiel richtig Spaß! Die erste Enttäuschung ist abgeschüttelt, und so wage ich mich ans Tutorial, das sehr ausführlich daherkommt. Das ist gut, denn ich kenne mich zwar in der Theorie bestens aus, in der Praxis aber noch gar nicht. Hier lerne ich, wie ich attackiere, den Windschatten richtig nutze, aber auch, wie ich mich während der Fahrt flott verpflegen kann oder mich bergab gut in die Kurven lege. Vor allem der Teamfunk wird detailliert erklärt. Das ist enorm wichtig, denn wenn ich später ein gesamtes Team übernehme, muss ich darüber meinen Fahrern Anweisungen erteilen können. Ich fühle mich gut vorbereitet.
Danach verschaffe ich mir einen Überblick, welche Spielmodi das Spiel zu bieten hat. Der Menüaufbau ist schlicht, aber funktionell. Neben einzelnen Rennen kann man auch die gesamte Tour oder andere Rundfahrten mit einem Team seiner Wahl spielen. Zusätzlich gibt es noch einen Karrieremodus, bei dem sich die Management-Möglichkeiten jedoch hauptsächlich auf das Transferieren von Fahrern anderer Teams im Verlauf der Jahre beschränkt, sowie einen Online-Modus, bei dem wechselnde "Rennen des Augenblicks" absolviert werden können.
Mehr ist mehr
Spannend finde ich auch den "Pro-Kapitän"-Modus, bei dem man seinen eigenen Radprofi erstellt und ihn auf viele Rennen seiner Karriere begleitet. Der wird von mir sicher gespielt, aber zunächst beginne ich eine "Tour de France"-Rundfahrt mit dem deutschen Team "Bora-hansgrohe". Ich als Lizenz-Guru, der sich im Radsport viel besser auskennt, als er sollte, werde hier erneut ein bisschen enttäuscht.
Zunächst beim Blick auf die Fahrer. Zwar sind alle Teams der Pro-Tour original vorhanden, vereinzelte Fahrerlizenzen fehlen aber. So wird aus Julian Alaphilippe dann Alaphilix, aus Simon Geschke wird kurzerhand Geschku und auch der Name von Weltmeister Remco Evenepoel ist leicht verfremdet.
Abhilfe schafft jedoch der leicht zu bedienende Editor, und so sind die wichtigsten Namen vor Tour-Start schnell angepasst. Nicht zu ändern ist jedoch die Auswahl der Rennen und Rundfahrten. Zwar gibt es neben der Tour, die das Herzstück ist, noch weitere Ein- und Mehrtagesrennen. Die anderen wichtigen, großen Rundfahrten wie der "Giro d'Italia" oder die "Vuelta a Espana" sind jedoch nicht dabei. Das ist schade, speziell im Hinblick darauf, dass sich so die Lust auf den Karrieremodus, wo man ganze Saisons spielt, bei mir in Grenzen hält.
Die Tour beginnt
Genug gejammert, die Tour beginnt, und die Rollen im Team werden schon zu Beginn klar verteilt. Der Australier Jay Hindley ist unser Mann fürs Gesamtklassement, Lennard Kämna soll als Ausreißer Etappensiege einfahren, das kolumbianische Leichtgewicht Sergio Higuita wird ums gepunktete Bergtrikot kämpfen. Die taktischen Möglichkeiten und individuellen Einstellungen während der Etappen sind sehr vielfältig, ich habe hier also auch im Rennverlauf die Möglichkeit, Taktiken zu ändern und Situationen bestmöglich für mich zu nutzen.
Auch der Fahrer, der gesteuert wird, kann während der Etappe gewechselt werden. Da die Etappen sehr lang sind, nutze ich im Rennverlauf die praktische Vorspul-Funktion. Wichtig dabei ist, dass man trotzdem im Blick behält, was die eigenen Rennfahrer machen, denn sonst kann es schnell passieren, dass man die entscheidende Ausreißergruppe verpasst oder einige Fahrer aufgrund zu hoher Belastung früh abreißen lassen müssen.
Insgesamt merke ich schnell, wie viel Spaß es mir macht, mich um meine Jungs im Team zu kümmern und sie verschiedenen Zielen nachjagen zu lassen. Dabei die Übersicht zu behalten, ist nicht leicht, und so werde ich speziell zu Beginn definitiv nicht allen meinen Fahrern gerecht. Trotzdem schafft man es relativ flott, den Dreh rauszubekommen und nach dem größtmöglichen Erfolg für die gesamte Mannschaft zu streben.
Best of the rest
Die Qualitäten der Fahrer fühlen sich sehr realistisch an, und so fällt es meinem Kapitän im Hochgebirge dann auch schwer, den beiden stärksten Fahrern der Szene, Pogacar und Vingegaard, zu folgen. Trotzdem lande ich auch zu Beginn kleine Erfolge. Higuita übernimmt schnell das Bergtrikot, Hindley platziert sich am Ende der Rundfahrt auf einem respektablen vierten Platz und meinem Etappenjäger Kämna ist es tatsächlich gelungen, einen Tageserfolg im Mittelgebirge zu feiern. In den entscheidenden Momenten der Etappe greife ich selber ein und nutze meine aus dem Tutorial erlernten Fähigkeiten, um gute Platzierungen zu erreichen oder sogar um Siege zu sprinten.
Auch die Möglichkeit, Etappen zu simulieren, probiere ich aus. Positiv: Realistische Ergebnisse, und meine Fahrer machen auch dort ihren Job solide. Negativ: Ich kann keine Voreinstellungen treffen, um ihnen individuelle Anweisungen zu geben. Alles in allem bin ich aber während meiner ersten großen Rundfahrt voll in meinem Element und hätte wirklich nicht gedacht, dass mich das Spiel so schnell einfängt.
Fazit
Über einige größere Baustellen wie insbesondere die Optik kann man nicht einfach so hinwegsehen. Als echter Radsport-Fan würde ich mir zudem eine größere Anzahl an Rennen sowie alle Originalfahrer wünschen. Trotzdem bleibt festzuhalten, dass das Spiel, obwohl die Zuschauer am Streckenrand dazu nicht beitragen, mich direkt zu Beginn in seinen Bann zieht und es mir schwer macht, aufzuhören.
Etappe um Etappe wird gespielt. Dabei entwickelt man sehr schnell den Ehrgeiz, seine Team-Strategien immer weiter zu optimieren und in den entscheidenden Phasen des Rennens auf eigene Faust dafür zu sorgen, seine Fahrer zum Erfolg zu führen. Verschiedene Schwierigkeitsgrade lassen zudem die Option offen, dass auch weniger versierte Spieler auf ihre Kosten kommen. Trotzdem richtet sich das Spiel vor allem an die, die ähnlich radsportbegeistert sind wie ich und sich entsprechend gut auskennen.
Trotz einiger Schönheitsfehler bin ich geneigt, mir das Spiel auch im nächsten Jahr wieder zu kaufen, um den Fortschritt genau unter die Lupe zu nehmen. Potenzial ist vorhanden, wenn an den richtigen Stellschrauben gedreht wird. Besonders optisch ist nämlich noch sehr viel Luft nach oben. Das würde den vorhandenen Spielspaß dann noch mal um einiges erhöhen und aus einem soliden ein gutes Spiel machen.
"Tour de France 2023" ist seit dem 8. Juni ohne Altersbeschränkung für Playstation 4 und 5 sowie Xbox Series, Xbox One und den PC erhältlich und kostet etwa 50 Euro.