
Hier ist eine Liste von Dingen, die in den ersten 30 Minuten von „Titane" passieren: mehrere Menschen werden mit einer langen Haarnadel getötet, eine Frau hat Sex mit einem Auto, besagte Mörder-Haarnadel wird für einen Abtreibungsversuch auf einer Toilette verwendet, die Protagonistin bricht sich selbst an einem Bahnhofswaschbecken die Nase. Der diesjährige Gewinner der Goldenen Palme von Cannes macht es Otto Normalzuschauern zum Anfang wirklich nicht leicht.
Das dürfte bei den Filmfestspielen aber kaum überraschend sein. Während sich die Oscars jährlich dem Vorwurf ausgesetzt sehen, zu häufig eher die massentauglichsten als die besten Filme zu ehren, sorgen Cannes-Gewinner beim normalen Zuschauer häufiger für eine einsilbige Reaktion: „Häää?" Bei „Titane" dürfte diese Reaktion schon bei der Plot-Zusammenfassung kommen. Deswegen schon die Warnung: Der nächste Absatz ist tatsächlich die Prämisse von „Titane".
Seit einem Autounfall als Kind hat Alexia (Agathe Rousselle) eine Titanplatte im Kopf und fühlt sich von Autos sexuell angezogen. Als Erwachsene ist sie ein erfolgreiches Modell, aber auch eine Serienkillerin. Nachdem sie einen aufdringlichen Fan ermordet, hat sie Sex mit ihrem Auto und wird schwanger von dem Boliden. Als die Polizei anfängt, nach ihr zu fahnden, verkleidet sie sich als ein seit Jahrzehnten vermisster Junge. Vincent (Vincent Lindon), der Vater des Verschollenen und Kommandant einer Feuerwehreinheit, nimmt sie begeistert als seinen Sohn auf. Doch schnell stellt sich heraus, dass auch er seine Geheimnisse hat.
Entweder man liebt oder hasst "Titane"
Es wird wahrscheinlich niemanden geben, der diesen Film nur okay findet. Entweder man hasst oder liebt ihn, wahrscheinlich aus genau denselben Gründen. Der Film macht es dem Zuschauer aber auch, wie gesagt, nicht leicht und dürfte in der ersten halben Stunde wohl selbst hart gesottene Horror-Fans käsebleich machen. Danach wird er aber deutlich zugänglicher und sogar erstaunlich berührend.
Was enorm dabei hilft: „Titane" ist zwar ein absoluter Arthaus-Film, hat aber auch definitiv einen Sinn für Humor, wenn auch einen sehr düsteren. So eskaliert zum Beispiel gleich zu Beginn eine Szene, in der Alexia eine Liebhaberin tötet. Auf einmal kommen immer mehr neue Mitbewohner beziehungsweise lästige Zeugen ins Zimmer, die auch getötet werden müssen. Bis Alexia von ihrem Amoklauf nur noch genervt ist. Wer darüber lachen kann, hat hier vielleicht die Komödie des Jahres für sich entdeckt.
Aber „Titane" kann auch anders. Gerade in der zweiten Hälfte finden sich viele kleine, sensible Szenen, in denen sich Feuerwehrmann Vincent und die verkleidete Alexia annähern. Im Kern ist „Titane" ein Film über zwei sehr gebrochene Menschen, die sich näher kommen. Es ist aber auch ein Film über Missbrauch, Geschlechterrollen und Veränderung. Dass diese Achterbahn aus Gewalt und Gefühlen funktioniert, ist der kongenialen Zusammenarbeit von Hauptdarstellerin Rousselle und Regisseurin Julia Ducournau zu verdanken. Wären die beiden nicht so eingespielt, wie sie es sind, wäre der Film eine einzige Katastrophe. Es ist schwer zu glauben, dass beide noch nicht seit Jahren etablierte Profis sind. Schließlich hat Duournau vor „Titane" nur einen einzigen anderen Spielfilm abgeliefert. (Für Interessierte: „Raw" ist ein Horrofilm über eine Veganerin, die zur Kannibalin wird, nachdem sie das erste Mal an der Uni Fleisch probiert.) Hier schafft sie es, aus all dem Wahnsinn nicht nur einen kohärenten, sondern auch einen mitreißenden Film zu machen.
Rouselle muss einen Großteil des Films stumm spielen
Rouselle ist sogar ein noch unbeschriebeneres Blatt. Vor „Titane" hat das Model nur ein paar Kurzfilme gedreht. Es ist ein Klischee, dass männliche Rezensenten Performances von Schauspielerinnen als furchtlos bezeichnen, wenn im Film viel nackte Haut zu sehen ist. In diesem Fall wäre das aber ausnahmsweise mal angemessen, denn nicht nur ist Rouselle für weite Teile des Films nackt, das sind dann auch die Szenen, wo sie vom Auto befriedigt wird oder ihr Motoröl aus den Brüsten läuft. Außerdem muss sie einen Großteil des Films stumm spielen, weil sie sich mit ihrer weiblichen Stimme in der Rolle als verlorener Sohn nicht verraten darf. Wenn das keinen Mut braucht, was dann? Rouselle meistert diese Herausforderungen mit Bravour ist in jeder Szene im Film geradezu elektrisierend.
Aber egal wie herausragend das Schauspiel und wie technisch gelungen dieser Film ist: er ist natürlich nicht für jeden etwas und das ist okay. Wer mit extremen Darstellungen von Gewalt und Sexualität Probleme hat, sollte um „Titane" einen großen Bogen machen. Wer sich aber von irgendeinem dieser Absätze tatsächlich angesprochen fühlt, wird diesen Film mit großer Wahrscheinlichkeit feiern.
„Titane" ist ein elektrisierender und herausfordernder Film über den Kreislauf von Missbrauch und über Geschlechteridentitäten. Es ist ein Film, den man am besten in einer Gruppe Gleichgesinnter schaut, um anschließend darüber zu diskutieren: „Moment, was hat es jetzt bedeutet, dass ihr Motoröl aus den Brüsten läuft?"