
Bielefeld. Anno, die siebte. Mehr als 20 Jahre nach Beginn des Kults um das Strategiespiel hat es mich bei "Anno 1800" doch gepackt: Sein eigenes Imperium im Zeitalter industrieller Revolution erbauen: eine verlockende Aussicht. Vor dem Spieletest ohne jede Ahnung, auf was ich mich einlasse, bin ich nach einigen Wochen deutlich schlauer. Unsere Rezension verrät: Nur wer sich die Zeit nimmt, sich auf Anno einzulassen und aus historischer Perspektive ein Auge zudrückt, der wird als Anfänger mit diesem Spiel auch glücklich.
Noch detailverliebter, noch komplexer, schlichtweg besser sollte Anno 1800 aus dem Hause Ubisoft werden. Als Neuling ist der Vergleich freilich schwer, aber schon beim Öffnen der Verpackung wird der erste Pflock gesetzt: Gleich vier Installations-CDs mit knapp 80 (!) Gigabyte Datenmaterial bringt Anno mit. Ein Schwertransport für mein Notebook, das es mit Mühe schaffen wird, Anno 1800 auf niedriger Grafikstufe laufen zu lassen. Vorweg: Selbst die ist stark aufgelöst, und sie ruckelt nicht. Der Koloss läuft nach mehreren Stunden Installations- und Updatezeit geschmeidiger als befürchtet. Klar wird aber, dass dieses Spiel neben viel Arbeitsspeicher auch eine Profi-Grafikkarte benötigt. Es kommt mit hohen Anforderungen und ist daher auch nur auf Computer und Gaming-Notebook spielbar.
Viele Güter, begrenzter Raum - das birgt Tücken
Mit Spielbeginn haben wir die Wahl: Freies Spiel oder Kampagne? Als Laie wähle ich den Questmodus, und das erweist sich als gute Entscheidung. Wir können uns langsam an Anno gewöhnen, begeben uns aber dennoch sofort auf wichtige Mission: Wir sollen das Erbe unseres verstorbenen Vaters wiederherstellen - und seinen rätselhaften Tod rächen. Im Rahmen dessen lassen wir uns auf einer von zahlreichen Inseln nieder, auf der wir unsere spätere Stadt errichten.
Noch aber grünt die Insel, Tiere springen umher - kein Zeichen von Zivilisation. Doch das lässt sich erstaunlich schnell ändern. Wahllos zimmere ich die ersten Bauernhäuser in Hafennähe, für die Holzproduktion ist aber ein Sägewerk erforderlich. Oft, das werde ich später feststellen, steckt eine komplexe Herstellungskette hinter wichtigen Produkten - und für alles müssen wir einerseits Platz und andererseits Arbeitskräfte schaffen.
So entsteht aus Getreide erst Mehl und dann Brot, aus Schafswolle werden Segel gewebt. Und aus Kartoffeln? Klar, Schnaps für das Wirtshaus. Das muss wiederum unbedingt schnell gebaut werden, um Bewohner zufriedenzustellen. Nur ist der Platz auf der Insel begrenzt, und wer zu großzügig plant, der kann viele Gebäude nach einigen Stunden wieder einreißen. Ein teurer Spaß.
Zwischen Diplomatie und Kriegslust
Das Spiel fesselt sofort, auch weil der Fortschritt zu Beginn rasend schnell erfolgen kann. Doch Sackgassen gibt es zu Genüge: Sind die Einwohner unzufrieden, ziehen sie aus. Ist das örtliche Lagerhaus voll, wird nicht weiter produziert. Und früher und später stellt ein jeder Spieler fest: Längst nicht jede benötigte Ressource ist auf unserer Insel zu finden. Ich muss die Welt erkunden, treffe auf andere Inselbesitzer.
Die haben sich teils längst ein eigenes Imperium aufgebaut und wir können entscheiden, ob wir mit ihnen handeln oder uns in Feindseligkeiten bis hin zum Krieg verstricken wollen. Diplomatie ist dabei nicht mehr der Königsweg, weshalb auch eine schlagkräftige Kriegsflotte für den Spielfortschritt kaum zu vernachlässigen ist. Ist die Seeschlacht erst angezettelt, geht es dort nicht zimperlich zu.

Doch die Liebe zum Detail kommt dennoch nicht zu knapp. Beispielhaft dafür steht der Zeitungsredakteur, der in unregelmäßigen Abständen sein neuestes Werk zum Lektorat vorlegt. Ist dem Spieler die Berichterstattung zu negativ, so kann er positive Texte einbauen und die Zeitung manipulieren - tatsächlich bringt das im Spiel so manches Mal sogar Vorteile. Durch Zwischenquests lassen sich zudem Items mit ausgewählten Boni erspielen.
Das historische Setting trügt
Gemacht ist Anno 1800 allen voran für Perfektionisten, denn es erfordert Zeit. Viel Zeit. Der charmante Hinweis auf einen Kaffee nach jeweils zwei Stunden Spielzeit taucht immer wieder auf, nach gut vier Wochen sind gar rund 50 Stunden Nettospielzeit erreicht. Anfänger werden viel ausprobieren, noch mehr falsch machen und so manches Gebäude wieder einreißen, ehe sie auf die richtige Fährte kommen.
Auch Historik-Experten sollten übrigens nicht zu viel erwarten, denn so manches Mal stellt Anno die Welt von damals als zu reibungslos dar. Kolonialismus und Sklavenhandel als wesentliche Bestandteile des Erfolgs industrieller Revolution werden entweder beschönigt oder gar komplett ausgeblendet. Den Anspruch einer tatsächlichen historischen Rekonstruktion erfüllt Hersteller Ubisoft damit nicht, und das wird von vielen kritisiert.
Nach Wochen leuchten die Entdecker-Augen. Denn wer sein Ziel emsig verfolgt, eine pulsierende Großstadt im Zentrum des eigenen Inselstaates zu errichten, der sieht seine frühzeitliche Metropole täglich wachsen. Dafür braucht es eine Menge Geduld, das Spiel beabsichtigt dies auch so. Es entschleunigt und erfordert doch immense Multitasking-Fähigkeit, wenn komplexe Handelsketten über mehrere Kontinente aufgebaut und stets sämtliche erbauten Dörfer auf Brände, Epidemien und weitere mögliche Probleme überwacht werden müssen.
Und wann ist das Spiel durchgezockt? Das ist es: Nie. Weshalb auch? Funktioniert die Gesellschaft, läuft der Betrieb auf allen Inseln, so wächst das Imperium zur Not auf natürliche Weise. Dass zu Beginn erst Pferdekutschen fahren und schließlich Güterzüge mit Elektrizität rollen, ist ein erhebendes Gefühl. Noch einen Kaffee, bitte!