Michelle Yeoh musste in ihrer Karriere schon viel einstecken. Die Schauspielerin aus Malaysia hat in Filmen des Hongkong-Kinos und später in Hollywood spektakuläre Stunts hingelegt und sich den Ruf als Kampfkunst-Legende hart erarbeitet. Was ihr aber in Interviews die Tränen in die Augen treibt, ist die Tatsache, dass ihr zwei junge Regisseure nach vier Jahrzehnten im Filmgeschäft die Chance gegeben haben, in einem einzigen Film die ganze Bandbreite ihres darstellerischen Könnens zu zeigen.
Yeohs Vielseitigkeit überrascht nicht wirklich, hat sie doch alle Facetten längst gezeigt: Ihr konzentriertes Spiel, das immer auf den Punkt ist und Stärke wie Sensibilität gleichermaßen zum Ausdruck bringt; ihre Ausstrahlung und körperliche Präsenz; ihre Fähigkeit, eine Figur minimalistisch und effektiv emotional auszuleuchten; ihren Humor. Noch nie hat sie all das so geballt entfalten können wie als chaotische Waschsalonbesitzerin Evelyn Wang in dem großen Oscar-Abräumer „Everything Everywhere All At Once“. Evelyn findet plötzlich heraus, dass es mehrere Paralleluniversen gibt - und darin mehrere Evelyns. Der Mix aus Science-Fiction, Drama und Komödie kann auf Wow und Sky Go gestreamt werden.
Yeoh, die überwiegend in Action-, Fantasy- und Science-Fiction-Filmen zu sehen war, hat auch kleine Rollen groß gemacht. Zum Beispiel die Elfe in "Blood Origin", dem vierteiligen, gelungenen Prequel zur erfolgreichen Fantasyserie "The Witcher" (Netflix, 2022). Unvergesslich ist sie auch in der unterhaltsamen romantischen Komödie "Crazy Rich (Asians)" (2018, Netflix, RTL+). Die Rolle der strengen Mutter hätte zur Karikatur werden können. Yeoh jedoch trägt eine Maske aus Eleganz und Eis, hinter deren Rissen eine komplizierte Gefühlswelt zum Vorschein kommt.
Ein Muss für jeden Filmfan ist Ang Lees bildgewaltiges Epos "Crouching Tiger, Hidden Dragon". Der Film markierte im Jahr 2000 Michelle Yeohs endgültigen Durchbruch im westlichen Mainstream-Kino. Sie spielt darin, wie so oft in ihrer Karriere, eine Schwertkämpferin. Auch wer für Science-Fiction nichts übrig hat, sollte der Serie "Star Trek: Discovery" (Paramount+) eine Chance geben. Nicht nur wegen Yeoh, aber auch.
Mit dem Oscar als beste Schauspielerin wird die 60-Jährige endlich als die Charakterdarstellerin gewürdigt, die sie schon immer war. Spät, aber nicht zu spät.