
In "Zeugin der Anklage" (1957), einer der besten Agatha-Christie-Verfilmungen aller Zeiten, bittet während des Abspanns ein Sprecher die Zuschauer, ihren Freunden und Bekannten nichts über die Auflösung des Films zu verraten, damit sie ihn genauso genießen können. Der Abspann der modernen Agatha Christie-Hommage "Knives Out" bräuchte eigentlich einen ähnlichen Hinweis, damit jeder Zuschauer diesen perfekt konstruierten Krimi ohne jedes Vorwissen genießen kann.
Dabei wirkt der Anfang noch so simpel und vertraut: Der milliardenschwere Krimiautor Harlan Thrombey (Christopher Plumber) wird am Morgen nach seiner 85. Geburtstagsfeier alleine mit durchtrennter Kehle aufgefunden - das blutige Messer noch in seiner Hand. Zwar hatte er sich am Tag zuvor mit nahezu jedem Mitglied seiner ebenso illustren, wie geldgierigen Familie (u.a. Jamie Lee Curtis, Toni Collete und Chris Evans) angelegt, doch es scheint der Polizei aufgrund der Todesart unmöglich, etwas anderes als Suizid zu vermuten. Doch eine Woche später stehen trotzdem wieder Beamte vor der Tür der Familienvilla - in Begleitung von Benoit Blanc (Daniel Craig), dem letzten klassischen Meisterdetektiv unserer modernen Zeit.
Doch schon in den ersten Minuten wird klar, dass "Knives Out" nicht nur ein moderner Agatha Christie Whodunit ist - ein Krimi, in dem der Fokus nur auf der Suche nach dem Täter liegt. Denn während Blanc noch die Mitglieder des Thrombey-Clans einzeln verhört, bekommen die Zuschauer parallel zu ihren Aussagen bereits durch Rückblenden Einblicke in das, was wirklich an dem Abend passierte. So wissen die Zuschauer immer mehr über den Fall als Gentleman-Detektiv Blanc selbst.
Kein Krimi, den man nur einmal sehen kann
Regisseur Rian Johnson ("Star Wars - Die letzten Jedi", "Breaking Bad") hatte in einem Interview durchblicken lassen, dass er vermeiden wollte, dass sein Krimi wie so viele Whodunits ein filmisches Wegwerfprodukt wird. Der gesamte Spannungsaufbau sollte nicht nur auf die Enthüllung des Täters zulaufen, sodass es bei einem zweiten Gucken nichts mehr zu sehen gibt. Durch den Wissensvorteil der Zuschauer mutiert der Film schon nach wenigen Minuten in einen Alfred Hitchcock-Thriller, in dem die Zuschauer in jeder Szene mitfiebern, ob Blanc einen wichtigen Hinweis findet oder nicht. Doch die Überraschungen hören dort noch lange nicht auf. Noch mehr über den Spannungsbogen zu verraten, würde jedoch den Spaß nehmen. Doch es fällt kein anderer Krimi ein, bei dem derart intelligent kalkuliert wird, wann die Zuschauer welche Information bekommen.
Was "Knives Out" zudem von der drögen Sonntagabend-Krimikonkurrenz trennt, ist ein Regisseur, der sein Handwerk meisterlich versteht. Zwar kann Rian Johnson hier keine epischen Weltraumschlachten inszenieren, doch als einer der besten visuellen Erzähler seiner Generation versteht er es wie kaum ein zweiter, eine Szene zu inszenieren. Statt Dialogszenen statisch abzufilmen wie ein öffentlich-rechtlicher Krimi, findet Johnson immer neue Wege seine Schauspieler aufregend in Szene zu setzen.
So wird zum Beispiel ein simpler Dialog im Hausflur durch das Stampfen eines Gehstocks nervenaufreibend oder der Versuch eines Verdächtigen, einen Beweis zu vernichten wird zu einer großartigen Slapstick-Sequenz. Johnsons visuellem Talent ist es auch zu verdanken, dass man nie den Überblick über Charaktere und Hinweise verliert. Ein winzige Blutspritzer auf einem Schuh wird Zuschauern wahrscheinlich länger im Gedächtnis bleiben als ganze Staffeln von CSI.
Schließlich gelingt Johnson auch noch das mühelos, was beim Tatort mittlerweile so gefürchtet wird: soziale Themen anpacken. Der Thrombey-Clan unterstützt zwar nur zur Hälfte explizit Präsident Donald Trump, doch auch die vorgeblich progressiveren Familienmitglieder wie Influencerin Joni Thrombey (Colette) können sich nicht einmal daran erinnern, aus welchem Land Großvater Thrombeys Altenpflegerin Marta Cabrera (Ana de Armas) eigentlich kommt. Sobald erste Verdächtigungen ausgesprochen werden, wird klar, dass "Knives Out" eine vom Rassismus zutiefst zerrüttete amerikanische Gesellschaft authentisch aufs Korn nimmt. Dabei nimmt der Film auch kein Blatt vor den Mund. Wenn Thrombeys im Internet radikalisierter Enkel Jacob (Jaeden Martell) plötzlich anfängt rechtsextreme Phrasen zu dreschen, wird nur wenige Sekunden später klargemacht: Ja, der Junge ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Nazi.
Craig ist besser als Blanc, als er es je als James Bond war
Auch schauspielerisch ist "Knives Out" ganz großes Kino. Im vor Talent nur so überbrodelnden Ensemble stechen vor allem Ana de Armas und Daniel Craig selbst heraus. De Armas ist das Herz des Films. Ohne ihre herzensgute, aber vielschichtige Marta würde "Knives Out" nicht funktionieren. Craig ist besser als Blanc als er es je als James Bond war. Und er war sehr, sehr gut als James Bond. Man sieht ihm in jeder Szene an, wie viel Spaß er dabei hat für seine Hercule-Poirot-ähnliche Figur exzentrischen Tick auf exzentrischen Tick zu stapeln - angefangen bei einem in der Synchronisation leider verlorenen Kentucky-Akzent bis hin zu seiner Fixierung auf Donut-Metaphern für seinen Fall.
"Knives Out" zu schauen, ist wie wieder mit Kinderaugen einen Krimi sehen zu dürfen. Jahrelange Vertrautheit mit einem ausgelutschten Genre werden von perfekt getimter Spannung, Komik und Überraschung einfach weggespült. Auf einmal ist selbst die Suche nach einem Fußabdruck wieder das aufregendste der Welt und man wartet gespannt darauf, was hinter der nächsten Ecke der Thrombey-Villa auf den Detektiv wartet. Mittelmäßige Krimiautoren sollten gezwungen werden, sich den Film anzuschauen, nur um zu lernen, was alles noch im Detektivgenre möglich ist.
Der Trailer zum Film: