Kinderrechte

Was passiert, wenn Kinder und Eltern die Rollen tauschen- mit allen Konsequenzen

In der Familie von Journalist Jochen Metzger hatten die Kinder vier Wochen lang das Sagen und alle Rechte - ein Versuch, der alle bis heute prägt

Stark und selbstbewusst: Kinder können viel mehr, als wir denken, glaubt der Journalist Jochen Metzger. Er hat für vier Wochen mit seinen Kindern die Rollen getauscht. | © picture-alliance/chromorange

07.06.2019 | 07.06.2019, 07:21

Wenn der Bundestag, wie jetzt gerade, darüber debattiert, ob Kinderrechte im Grundgesetz verankert werden sollen, dann dient das vor allem dazu, dass Erwachsene das Wohl von Kindern besser berücksichtigen und schützen müssen.

Was aber würde passieren, wenn Minderjährige nicht nur Kinderrechte, sondern genau die gleichen oder sogar mehr Rechte hätten als Erwachsene? Das hat der Hamburger Journalist und Autor Jochen Metzger vor acht Jahren in seiner eigenen Familie ausprobiert: Einen Monat lang tauschten Kinder und Eltern die Rollen. Ein Experiment, das die Familie bis heute prägt.

Jochen Metzger, Journalist und Vater mit einem Sinn für päadagogische Experimente, auf Sylt. - © Dennis Williamson
Jochen Metzger, Journalist und Vater mit einem Sinn für päadagogische Experimente, auf Sylt. | © Dennis Williamson

Herr Metzger, erklären Sie doch bitte nochmal kurz die Eckdaten des Experiments.
Jochen Metzger:
Wir haben einfach alles umgedreht: Die Kinder bekamen die Rechte und Pflichten der Eltern und die Eltern die Rechte und Pflichten der Kinder. Ansonsten galten die selben Regeln, nach denen wir auch sonst gelebt haben – nur eben mit vertauschten Rollen. Bei Dingen, die die Kinder nach unserem Grundgesetz nicht durften, waren wir dann lediglich die Ausführenden, sie haben aber trotzdem bestimmt, was wir tun sollten.

Die neuen Rechte Ihrer Kinder waren unter anderem die Verwaltung des gesamten Haushaltsgeldes von 700 Euro für den Monat und die Entscheidung darüber, ob sie zur Schule oder ins Bett gehen. Ganz schön viel Verantwortung.
Metzger:
Das stimmt. Aber wir haben gesagt: Wenn wir das machen, dann auch richtig. Das funktioniert und ist den Aufwand nur wert, wenn wir das 100-prozentig ernst nehmen. Insgesamt war auch das Alter unserer Kinder wichtig. So ein Experiment funktioniert vermutlich nur, wenn die Kinder schon ein wenig in Zukunft planen können. Das ist erst ab etwa zwölf Jahren der Fall.

Wie sind Sie denn überhaupt auf die Idee gekommen, die Rollen zu tauschen?
Metzger:
Ich habe mit meinem Sohn Tischtennis gespielt. Dabei war er einmal – mehr so als Scherz – mein Trainer, der mir Anweisungen gegeben und mich gecoacht hat. Danach kam er zu mir, hat mich fest gedrückt und gesagt: "Danke Papa, so höflich hat noch nie jemand mit mir gesprochen!" Das hat mich total berührt – aber auch betroffen gemacht, weil ich natürlich dachte, dass ich ansonsten auch einen zugewandten und guten Ton mit meinen Kindern habe.

Und jetzt die erstaunliche Nachricht: Das Experiment hat funktioniert.
Metzger:
Es hat nicht nur funktioniert. Es war der Hammer, eine Erfahrung, die uns bis heute berührt und prägt. Und meine Kinder haben ein Potential abgerufen, das wir so niemals erwartet hätten.

Zum Beispiel?

Metzger: Unsere Tochter, damals 13 Jahre alt, hat binnen weniger Tage Inventur im Küchenschrank gemacht, Einkaufslisten erstellt und Essenspläne für die gesamte Woche geschrieben. Es hatte sie schon immer gestört, dass bei uns ab und zu Lebensmittel verderben. Und unser Sohn, damals 10 Jahre alt, wollte sich von den 700 Euro die langersehnte Spielkonsole kaufen. Wir standen schon zusammen im Laden, denn ihm allein hätte man ihm das Ding wohl nicht verkauft. An der Kasse hat er dann aber einen Rückzieher gemacht. Das Geld war ihm zu wichtig und zu schade. Da bin ich fast hintenüber gefallen.

Und wie war das mit der Schule?
Metzger:
Unsere Tochter hat sich in der gesamten Zeit zwei Tage freigenommen, der Sohn ein paar Tage mehr. Das war aber auch noch im grünen Bereich. Naja. Vielleicht hätten wir die Lehrer vorher über unser Experiment informieren sollen. Aber die Kinder wollten das nicht und das haben wir respektiert.

Was gab es noch für Schwierigkeiten?
Metzger:
Man muss ganz klar sagen, dass unsere Tochter irgendwann mit der Verantwortung für das Haushalten überfordert war, als die Kohle knapp wurde. Das war vermutlich eine zu große Belastung für sie, weil sie die Sache nicht mehr unter Kontrolle hatte. Unser Sohn hat die Zeit zwar sehr genossen – aber im Nachhinein gesehen, dass er sich manchmal doch ein paar Grenzen gewünscht hätte.

Und wo sind Sie als Eltern an Ihre Grenzen gekommen?
Metzger:
Wir hatten jeder 40 Euro Taschengeld für den Monat. Das war natürlich schnell weg, so dass ich mich mittags in der Kantine bei Kollegen durchschnorren musste. Fand ich eher unangenehm. Und einmal bin ich nach Hause gekommen und es war nichts zu essen da, wirklich gar nichts. Da hab ich dann losgeschimpft.

Sie haben als Familie im Vorfeld zehn Gebote aufgestellt, auf denen das Experiment fußte. Was hat es mit Nummer Vier auf sich: „keine Rache"?
Metzger:
Das war den Kindern ganz wichtig: Niemand durfte sich danach für das rächen, was während des Experiments vorgefallen ist. Ich fand das unglaublich spannend, dass sie darauf bestanden haben. Kinder haben ein ganz klares Gefühl für Machtstrukturen und sie wissen auch ganz genau, wer privilegiert ist und wer nicht.

Würden Sie das Experiment nochmal machen?
Metzger:
Unbedingt! Das war mit die beste Zeit in meinem Leben. Wir haben eher wie eine WG zusammengelebt und sind einander ganz neu begegnet. Wir haben einen sehr gleichberechtigten Umgangston entwickelt, den wir bis heute beibehalten haben, soweit ich das beurteilen kann. Ich würde sagen, dass unsere Kinder daran enorm gewachsen sind. Beide haben viel mitgenommen, konnten sich danach viel besser behaupten. Zum Beispiel hat mein Sohn nach dem Experiment mal eine Nachbarin, die ihn unterbrochen hatte, höflich aber bestimmt gebeten, ihn ausreden zu lassen. Das war toll. Aber was ich mit am wichtigsten finde: Die Kinder konnten es hinterher auch wieder viel mehr genießen, eben Kind zu sein. Unsere Tochter hat anschließend mal gesagt: Ich war jetzt schon einmal erwachsen. So toll ist das gar nicht.

Gar keine Einschränkungen?
Metzger:
Doch. Man muss wissen, dass es Dinge gibt, die man hinterher nicht mehr eingefangen kriegt. Back to normal ist dann nicht mehr, weil die Kinder ein ganz neues Selbstbewusstsein entwickelt haben. Und ich habe unterschätzt, wie weit wir mit der Selbstbestimmung schon damals die Tür zu den digitalen Medien geöffnet haben. Unser Sohn hat eine Zeitlang relativ begeistert Spiele gezockt. Ohne das Experiment hätte das vermutlich erst zwei Jahre später angefangen.

Ist Ihr Fazit trotzdem: Mehr Rechte für Kinder?
Metzger:
Das ist mir als Aussage zu pauschal. Klar, ich bin mir heute sicher, dass Kinder viel, viel mehr können, als wir ihnen zutrauen und dass sie in einer gewissen Freiheit dieses Potential auch abrufen. Andererseits: Dass man als Kind oft zu klein ist für die Welt und für unsere Gesellschaft, das hat auch ihr Gutes. Ich musste als Kind zum Beispiel für meine Oma zum Fleischer einkaufen gehen. Dort habe ich aber die schwere Ladentür nicht alleine aufbekommen. War doof. Aber andererseits eine wichtige Erfahrung. Es gab immer eine Herausforderung, einen Antrieb: Kriege ich die Tür morgen auf? An den Moment, an dem das zum ersten Mal geklappt hat, erinnere ich mich noch heute. Und das ist ein ganz gutes Bild für die Entwicklung und Situation von Kindern, glaube ich.

Information
Über das Experiment des Rollentauschs hat Jochen Metzger ein Buch geschrieben. Es heißt "Alle Macht den Kindern" und ist im Patmos-Verlag erschienen.