Sprachprofessorin Wiese erklärt "Kiezdeutsch"

Arabisch und türkisch beeinflusst den Jugendslang

Forscherin Heike Wiese hat Jugendlichen aufs Maul geschaut. | © FOTO: STEFFI LOOS

18.02.2012 | 08.04.2019, 17:19

Bielefeld. "Lassma Kino gehn, Lan": So könnte eine Verabredung Jugendlicher klingen, die sich im Jugendslang unterhalten. Für viele ein Zeichen des Verfalls der deutschen Sprache. Heike Wiese, Professorin für deutsche Sprache der Gegenwart an der Uni Potsdam, hat die Jugendsprache, die sie Kiezdeutsch nennt, untersucht. Sie hat festgestellt, dass junge Menschen in ganz Deutschland ähnlich kommunizieren. Darüber sprach Nico Buchholz mit ihr.

Frau Wiese, was ist Kiezdeutsch?
HEIKE WIESE: Kiezdeutsch ist eine Jugendsprache, die sich in multi-ethnischen Wohngebieten entwickelt hat, in denen viele Jugendliche mehrsprachig aufwachsen – neben dem Deutschen vielleicht mit Türkisch, Kurdisch oder Arabisch.

Sie haben das Phänomen in Berlin erforscht. Kann man es auf andere deutsche Städte übertragen?
WIESE: Unbedingt. Wir haben Beschreibungen aus Hamburg, Mannheim und dem Frankfurter Raum, die ähnlich sind. Es kommen zum Beispiel neue Formen der Wortstellung oder Ortsangaben ohne Artikel und Präpositionen vor (etwa: "Ich bin Bahnhof"). Das ist nicht an eine Region in Deutschland gebunden. Interessanterweise sind ähnliche Merkmale in anderen europäischen Ländern zu finden. Das ist dann natürlich kein Kiezdeutsch, sondern Kiezholländisch, Kiezschwedisch, Kiezenglisch, Kiezdänisch.

Ist Kiezdeutsch beschränkt auf Jugendliche mit Migrationshintergrund?
WIESE: Überhaupt nicht. Wichtig ist eine Sprechergemeinschaft, in der viele Sprecher mehrsprachig sind. Das müssen aber nicht alle sein. Dann entwickeln Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund gemeinsam einen neuen deutschen Dialekt, Kiezdeutsch.

Können Sie typische Merkmale für Kiezdeutsch nennen?
WIESE: Ich würde Kiezdeutsch als eigenen Dialekt ansehen, weil es typische Merkmale in Wortschatz, Aussprache und Grammatik gibt. Im Wortschatz können es Wörter aus dem Englischen sein, es können sich neue Wörter aus dem Deutschen entwickeln. Das Besondere ist, dass wir auch Wörter aus verschiedenen Herkunftssprachen unterschiedlicher Sprecher haben. Aus dem Arabischen kommt "abu" als Ausdruck der Empörung, aus dem Türkischen "lan" oder "moruk".

Was bedeuten diese Wörter?
WIESE: "Lan" heißt im Türkei-Türkischen ursprünglich "Kerl", es ist ein leicht negatives Wort für "Mann". Im Kiezdeutsch wird es verwendet wie "Alter". Komm mal her, Alter – Komm mal her, Lan. Eine Art Anredefloskel. "Abu" kommt aus dem Arabischen und heißt "Vater", wird aber häufig als Beleidigung genutzt. Also dein Vater ist ein Schwein, ein Esel, ein Hund. Das ist dann "Abu dies", "Abu das", "Abu jenes". Im Süden der Türkei sagt man "abo" als Ausdruck der Empörung, ein ähnliches Wort, das das weiter stützt. Das Wort "moruk" heißt im Türkischen wörtlich "alter Mann", in Kiezdeutsch wird es zu "Kumpel".

Wie ist es mit der Grammatik?
WIESE: In der Grammatik gibt es viele Entwicklungen, das macht Kiezdeutsch so besonders im Vergleich zu anderen Jugendsprachen. Das Wort "so" bekommt die Funktion, im Satz etwas Neues, Wichtiges zu betonen. "Gestern waren wir so Kino." Das findet sich in der gesprochenen Sprache auch außerhalb von Kiezdeutsch, nur ist es dort weniger auffällig. Ich habe es in Mitschnitten des literarischen Quartetts und bei Gotthold Ephraim Lessing gefunden. Es ist also weder neu noch exotisch. In Kiezdeutsch entwickeln sich auch neue Wörter für Aufforderungen. Im Standarddeutsch haben wir "Bitte". Im Kiezdeutsch gibt es "Lassma", wie bei "Lassma Kino gehen". Im lautlichen Bereich wird in Kiezdeutsch oft "ich" zu "isch", ähnlich wie im Rheinland.

Wie haben Sie Ihre Sprachbeispiele gesammelt, haben Sie mit Jugendlichen gesprochen?
WIESE: Das hätte nicht geklappt. Niemand spricht ausschließlich Kiezdeutsch. Die Jugendlichen können alle auch andere Varianten des Deutschen. In Interviews würden sie kein Kiezdeutsch sprechen. Wir sind zu alt, gehören nicht in die Gruppe. Wir haben ihnen Aufnahmegeräte mitgegeben, damit sie Gespräche mit Freunden aufzeichnen.

Besteht Gefahr, dass durch Kiezdeutsch Bedeutungen aus dem Hochdeutschen verloren gehen?
WIESE: Nein, es kommen neue hinzu. Ich kann Informationen anders anzeigen, ich habe andere Arten der Wortstellung. Ein neuer Dialekt nimmt anderen Dialekten nichts weg. Ein Problem für Jugendliche ist nur, wenn sie Standarddeutsch nicht beherrschen.

Verstehen sie selbst Kiezdeutsch?
WIESE: Die neuen Wörter versteht man manchmal nur, wenn man die Hintergrundsprache kennt. Die Grammatik versteht aber jeder. Das ist unheimlich deutsch – ein Dialekt, den man gut nachvollziehen kann. Es nimmt Tendenzen der deutschen Grammatik auf und entwickelt sie weiter.

Wie sind Reaktionen auf Ihre Forschung ausgefallen?
WIESE: Überwiegend negativ. Ich bekomme oft emotionale Mails von Leuten, die sich aufregen. Sie fühlen sich stark in ihrem Selbstbild bedroht, wenn Kiezdeutsch nicht mehr gebrochenes Deutsch seien soll. Ich kriege aber auch positive Zuschriften von Leuten aus der Praxis, von Lehrern oder Jugendarbeitern.

Wenn wir 15 Jahre alt wären und uns auf Kiezdeutsch verabschieden würden, was wäre ein typischer Abschied?
WIESE: "Hadi çüs". "Hadi" heißt auf Türkisch "los, komm", "çüs" ist in der Türkei ein Ruf gegenüber Eseln. Ich glaube, das sagt man auf Kiezdeutsch, weil es ähnlich wie "Tschüss" klingt.