Bielefeld

Neuer Bildband über Hai-Begegnungen

Der Fotograf Jean-Marie Ghislain verwandelte seine größte Angst in sein größte Leidenschaft

Zauberhafter Unterwasserwald: Apnoetaucherin Hanli beim Spaziergang mit einem Hai im Meer bei Kapstadt. | © FOTO: ELISABETH SANDMANN VERLAG / J.-M. GHISLAIN

Thomas Klingebiel
14.01.2015 | 15.01.2015, 09:51

Bielefeld. Die Urangst vor dem Ungeheuer aus der Tiefe steckt in uns allen. Schon der Anblick eines Hai-Fotos oder Berichte über Hai-Attacken lösen bei den meisten Menschen einen elektrisierenden Gefühlsmix aus. Ererbte Furcht liegt darin, aber auch Faszination. Der belgische Fotograf Jean-Marie Ghislain (59) schildert in seiner Biografie und einem parallel erschienenen Bildband, wie seine friedlichen Begegnungen mit den gefürchteten Raubfischen ihn zu einem anderen, freieren Menschen gemacht haben.

Seine ausgeprägte Angst vor Wasser und Meer führt Ghislain auf ein frühes Trauma zurück. Er wächst in den 50er Jahren in einer belgischen Kleinstadt auf. Der Vater trinkt und prügelt. Die strengkatholische Mutter fügt sich in ihr Los. Als der Vater sich scheiden lässt, ertränkt sich die Mutter in einer Zisterne. Ghislain war zu der Zeit schon aus der Enge der familiären Verhältnisse in die weite Welt geflohen. Seine Tante gibt ihm bei der Beerdigung die Schuld am Tod der Mutter, weil er sie im Stich gelassen habe. "Damit hatte sie wohl recht", schreibt Ghislain.

Immer wieder versucht der ruhelose Globetrotter und Geschäftsmann - Umwelttechnologie, Immobilien, Bäumchen-Versandhandel, Restaurantbeteiligungen -, sich dem gefürchteten nassen Element zu nähern. Er surft, er segelt. Doch negative Erfahrungen scheinen seine Ängste nur zu bestätigen. Schließlich probiert er es noch einmal. Er lernt das Tauchen und lässt sich 2009 zu einem Tauchgang bei den Haien vor Mexikos Küste überreden. Ein einschneidendes Erlebnis.

Bittere Bilanz mit 50

Bis dahin stellte sich Ghislains Leben, wie er es in "Schönheit besiegt Angst" erzählt, als ewiges Auf und Ab von geschäftlichen Erfolgen und fürchterlichen Pleiten dar, als ein Reigen aus unzähligen Beziehungen und einer gescheiterten Ehe. Mit 50 zieht er eine bittere Bilanz: Fast alles verloren, unfähig zu Gefühlen und dauerhaften Beziehungen. Dann blickt er im Meer vor Playa del Carmen seiner Furcht direkt ins Auge: Mit seinem Tauchlehrer steigt er zu einem Dutzend Bullenhaien in 20 Metern Tiefe hinunter. "Ich kniete inmitten dieser mächtigen, prächtigen, und perfekten Tiere, die um uns herumschwammen und immer näher kamen." Am Schluss streifen die "überwältigend schönen Bestien" die Taucher. "Es war wie eine einzigartige, faszinierende Liebkosung", schreibt Ghislain. "Die Schönheit hatte meine Angst besiegt."

In seiner Biografie, Chronik einer Reise zu sich selbst, berichtet er von Hai-Begegnungen in allen Weltmeeren, beschreibt, wie er das Vertrauen der als aggressiv geltenden Tiere gewinnt. Die Rettung der von Menschen hemmungslos gejagten Räuber wird zu seinem neuen Lebensinhalt. Noch beeindruckender als der Lebensbericht lassen Ghislains einzigartigen Schwarzweiß-Fotografien die geschilderten Glücksgefühle nachempfinden.

Die graphisch betörend komponierten Bilder entführen in eine Unterwasserwelt, in der für kostbare Momente eine paradiesische Harmonie zu herrschen scheint: Szenen spielerischer Zweisamkeit, spektakuläre Bilder von Riffhai-Schwärmen, die sich nicht im geringsten für die Taucher interessieren, hautnahe Porträts sichtlich kampferprobter Alttiere. Den Respekt vor Haien hat sich Ghislain trotz aller Nähe und Faszination stets bewahrt. Seine wichtigste Überlebensregel: "Nie den Rücken zudrehen."

  • Jean-Marie Ghislain: "Berührende Schönheit", Bildband, 192 S., 48 €; "Schönheit besiegt Angst", 160 S., 19,95 €, beide im Elisabeth Sandmann Verlag.

Information
Kuriosum Mensch

Haie haben ein schlechtes Image als Meeresmonster, die nur darauf warten, ahnungslose Schwimmer zu fressen. Tatsächlich gibt es im Schnitt pro Jahr weltweit 75 Haiunfälle, von denen rund 10 tödlich enden.

Menschen sind für Haie keine ideale Beute. "Sie sehen Menschen als viel zu mager und nährstoffarm an", schreibt Ghislain. Als senkrecht im Wasser stehende Lebewesen seien sie für sie ein Kuriosum.

Bei Menschen wie Haien gebe es "sehr unterschiedliche Persönlichkeiten". "Deshalb gestalten sich auch die Begegnungen vielfältig." (nw)