Düsseldorf. Kurz bevor Justin mit nur zehn Jahren an einer schweren Erkrankung sterben muss, hat er noch viele Fragen: "Gibt es im Himmel Schokolade? Muss ich die kaufen? Wo kriege ich das Geld her?" Für Anja Eschweiler, Geschäftsleiterin des Kinder- und Jugendhospizes Regenbogenland in Düsseldorf, ist der Junge ein Beispiel, dass sterbenskranke Kinder oft viel unbefangener mit dem Abschiednehmen umgehen können als ihre trauernden Eltern, Geschwister und Großeltern. "Irgendwann hat er angefangen, Schoko-Nikoläuse zu sammeln. Den größten hat er mitgenommen", erzählt die 35-Jährige.
Wer das Regenbogenland an einer stark befahrenen Düsseldorfer Straße besucht - so wie Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst am Freitag - wird nicht von Grabesstille und Dunkelheit umfangen. "Man vermutet, in ein trauriges Haus zu kommen. So ist es aber nicht", wundert er sich. "Das ist wohl das Bedrückendste, was einem passieren kann, wenn die Kinder todkrank werden", sagt der 47-Jährige - selbst Vater einer Tochter.
Hell und bunt strahlt das Haus seine Besucher an und macht fast vergessen, dass es Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit lebensverkürzenden Erkrankungen beherbergt. "Am schwersten ist es, zu verarbeiten: Mein Kind wird vor mir sterben", sagt Ilka Schrimpf. Die 53-jährige Bankkauffrau erfährt durch ein Blutbild vor einer Standard-Operation eher zufällig, dass ihr Sohn Konstantin an einer seltenen, fortschreitenden Muskelerkrankung leidet. "Bis zu seinem zehnten Lebensjahr konnte er noch laufen", erinnert sie sich. Inzwischen gehe motorisch nicht mehr viel.
Als 14-Jähriger kommt er zum ersten Mal ins Regenbogenland, heute ist er 19 Jahre alt. "Er weiß, er kann um die 30 werden - vielleicht ein bisschen älter", sagt seine Mutter mit fester Stimme. Das 80-köpfige multiprofessionelle Team versucht, Eltern von reinen Pflegetätigkeiten zu entlasten und die ganze Familie in ihrer Trauer aufzufangen. Zeitweise können Angehörige sogar in Appartements aufgenommen werden. "Miteinander-Momente schaffen", nennt Eschweiler das.
"Es kommt ja doch immer der Moment, wo man es einfach nicht wahrhaben will"
Am Freitag wagt sich Ilka Schrimpf zum allerersten Mal in den schlicht gestalteten "Abschiedsraum". Der Blick fällt auf ein Kühlbett mit grauer Bettwäsche in der Mitte, daneben eine Holzsäule mit bunten Schmetterlingen, auf denen die Namen gestorbener Kinder stehen, an der Wand ein Bild mit einem Regenbogen über einer üppigen Blumenwiese, Engel, Kerzen, Musikbox, auch ein verborgener Wasseranschluss für rituelle Waschungen.
Ein bedrückender Moment für die Mutter. Bislang habe ihr Sohn keine Wünsche geäußert, wie er sich sein Abschiednehmen eines Tages vorstelle, sagt sie. "Ich will das demnächst mal ansprechen."
Auch für Eschweiler, die 2017 einen gut bezahlten Job als diplomierte Kauffrau bei einem großen Autobauer an den Nagel hing, um ihr ehrenamtliches Engagement im Kinderhospiz zum Hauptberuf zu machen, ist es das eigentlich Unvorstellbare: "Man denkt: Das ist komplett falsch."
Der Abschiedsraum ist mit seiner einfachen Möblierung und den Pastellfarben bewusst zurückhaltend gestaltet, um ihn ganz schnell nach den Wünschen der Familien umdekorieren zu können. "Hier können trauernde Angehörige sieben Tage lang Abschied nehmen", erklärt Eschweiler. "Wir hatten hier auch schon alles in blau-weiß". Damals war ein junger Schalke-Fan gestorben.
In dem Raum könnten auch Schulklassen von ihren Freunden Abschied nehmen und Geschwister gemeinsam Kinder-Särge bemalen. "Das hilft, wenn Worte fehlen", weiß sie aus Erfahrung. Die in Deutschland nicht mehr weit verbreitete Sitte, am Totenbett Wache zu halten, helfe sehr, den Tod buchstäblich zu begreifen. "Es kommt ja doch immer der Moment, wo man es einfach nicht wahrhaben will."
"Der erste Schock war schlimm. Das hat mich komplett aus der Bahn geworfen"
Daryan Feghhi merkt, dass wohl ein besonderer Tag ansteht. Vor dem Besuch des Ministerpräsidenten im Regenbogenland kuschelt der Neunjährige mit seiner Mutter im "Raum der Stille" mit Blick auf eine Erinnerungsmauer für die Gestorbenen. Mit seinem Kuscheltier sitzt er im Rollstuhl, seine Mama Narges Feghhi hält liebevoll seine Hand.
Sprechen kann er nicht. "Er antwortet auf seine Art und Weise", sagt sie. Am Ende interessiert sich Daryan sichtbar mehr für die Clowns, die hier zum breit gefächerten Therapie-Angebot gehören - unter anderem mit Tieren, Klangschalen oder Aromen - als für den Regierungschef.
Schon in der zwölften Schwangerschaftswoche erfährt die heute 53-jährige Mutter, dass ihr Kind eine sehr seltene Krankheit hat: "eine partielle Trisomie 22 als Mosaik". Weltweit gebe es davon nur eine Handvoll Vergleichsfälle, sagt man ihr. Dass bei ihrem Sohn noch eine sogenannte Balkenagenesie - eine angeborene Hirnfehlbildung - hinzukomme, mache sein Leiden einzigartig.
"Der erste Schock war schlimm. Das hat mich komplett aus der Bahn geworfen", erinnert sich die Mutter. Eine Abtreibung sei für sie aber nicht infrage gekommen. Auch ihren Teilzeit-Job als Assistentin in einem Energiekonzern behält sie. Stattdessen trennt sie sich vom Vater des Kindes, der mit der Behinderung seines Sohnes nicht klargekommen sei.
Wie schafft man es, die Trauer zu überwinden und nicht mit dem Schicksal zu hadern? Narges Feghhi lächelt milde: "Für mich ist es das perfekteste Kind überhaupt." Ihr Sohn habe sie geerdet. "Es vergeht kein Tag, wo ich nicht denke, dass ich die Ehre habe, seine Mama zu sein. Ich fühle mich ausgesucht."
Es gibt sechs Kinderhospize in NRW
Nach Zahlen des Bundesverbands Kinderhospiz leben in Deutschland etwa 50.000 Kinder und Jugendliche mit lebensbegrenzenden Erkrankungen. Circa 5.000 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene jährlich sterben demnach an einem solchen Leiden. Der Verein weist für ganz Deutschland 20 stationäre Kinderhospize aus - das Regenbogenland ist eines von sechs in NRW. Außerdem gibt es laut Deutschem Hospiz- und Palliativverband bundesweit etwa 230 ambulante Dienste für Kinder und Jugendliche - teils in Kooperation mit Erwachsenen-Diensten.
Schlimm sei es, wenn das Umfeld sich aus Unsicherheit total zurückziehe, sagte Schrimpf, die sich auch als Vorstandsmitglied im Förderverein engagiert. "Die Sprachlosigkeit ist schwer. Mir ist lieber, wenn Leute fragen statt zu gucken", rät sie. "Man kann da nichts Falsches sagen."
Wenn ein Kind gestorben ist, gibt es ein Ritual im Regenbogenland: Alle stehen Spalier, wenn der Sarg vorbeigetragen wird. Selbst in diesen traurigen Momenten sei sie aber froh, dass die Familien im Regenbogenland umsorgt seien und dass sie keine Arbeit habe, die man "an der Stempeluhr ausschaltet", resümiert Eschweiler. "Ich habe nirgendwo so viel gelacht wie hier."