Aus Angst vor Corona: Herzpatienten zögern zu lange

Berlin/Minden. Weniger Patienten mit Herzproblemen im Krankenhaus, aber mehr Todesopfer aufgrund von Herzproblemen außerhalb der Kliniken. Seit Beginn der Pandemie lässt sich Studien zufolge diese Entwicklung weltweit beobachten. Zudem warnen Mediziner, dass Betroffene zu lange warten, bevor sie den Notarzt rufen und so irreversible Schäden davontragen. Kardiologe Marcus Wiemer aus Minden erklärt, welche Folgen drohen, wenn Patienten trotz Beschwerden zuhause bleiben. Eine bundesweite Auswertung fehlt bislang, doch Untersuchungen von Kliniken belegen auch für Deutschland, dass die Zahl der Herzpatienten in den vergangenen Monaten deutlich zurückgegangen ist, insbesondere in den Krisenmonaten März und April. Eine Analyse des Universitätsklinikums Ulm zeigt, dass dort verglichen mit den Jahren 2017 bis 2019 zwischen dem 21. März und 20. April rund 20 Prozent weniger Patienten wegen akuter Herz-Kreislauf-Probleme aufgenommen wurden. Zudem gab es nach Herzinfarkten häufiger schwerere Komplikationen als zuvor. Patienten haben Angst vor einer Ansteckung im Krankenhaus &bdquo;Diese Untersuchung bestätigt auch die Analyse diverser Krankenkassen, die 25 bis 40 Prozent weniger Herzpatienten registriert haben", erklärt Wiemer, Direktor der Klinik für Kardiologie und Internistische Intensivmedizin am Universitätsklinikum Minden. &bdquo;Das liegt aber nicht daran, dass es seit März plötzlich weniger Patienten mit Herzproblemen gibt, sondern daran, dass noch immer viele Menschen Angst davor haben, sich im Krankenhaus mit dem Coronavirus zu infizieren oder nicht für die Überlastung von Ärzten und Pflegekräften verantwortlich sein möchten." Wiemer und sein Team beobachten seit März, dass Menschen mit Herzschmerzen erst spät in die Klinik kommen, mit oft irreversiblen Folgen. &bdquo;Einer unserer jungen Herzpatienten wird seit März behandelt und erholt sich nur langsam, weil er erst nach 24 Stunden mit Beschwerden den Notarzt gerufen hat", erklärt Wiemer. &bdquo;Wenn so lange trotz Beschwerden abgewartet wird, können Gefäße absterben. Wer hingegen sofort handelt, kann sich viel Lebensqualität erhalten. Beim Herzinfarkt zählt jede Minute." Patienten schätzen Symptome oft falsch ein Häufig schätzen laut Wiemer Patienten Symptome falsch ein. Zudem hätten vor allem ältere Menschen in den vergangenen Monaten aufgrund der Einschränkungen weniger Kontakt zu ihren Vertrauten und Ärzten gehabt. &bdquo;Ein Ostwestfale hält einiges aus und unterschätzt Symptome deshalb auch gerne mal. Wenn dann noch die Kinder oder Enkel fehlen, die auf einen Arztbesuch drängen, und der Kontakt zum Hausarzt nur eingeschränkt läuft, kann das gefährlich werden." Deshalb geht Wiemer davon aus, dass die Zahl der Herztoten während der Pandemie insgesamt gestiegen ist, auch wenn in den Kliniken weniger Patienten mit Herzproblemen behandelt werden. &bdquo;Wir wissen mittlerweile, dass das Coronavirus auch massiv das Herz angreift. Hinzu kommt, dass sehr viele Menschen aufgrund von Jobverlust, Kurzarbeit oder familiären Stresssituationen unter großem Druck stehen, den nicht jeder locker wegsteckt", sagt Wiemer. Deutlich mehr Tote durch plötzlichen Herzstillstand Diese Einschätzung bestätigten Studien aus verschiedenen Ländern. Untersuchungen aus Italien und Frankreich zeigen, dass es während der Pandemie zu einem deutlichen Anstieg von plötzlichen Herzstillständen außerhalb der Kliniken gekommen ist. In Paris hat sich die Zahl nach Angaben des Nationalen Instituts für Gesundheit und medizinische Forschung gegenüber den Vorjahren verdoppelt. Ähnlich ist die Situation in Italien: Aus dem Patientenregister in Norditalien geht hervor, dass die Zahl der Todesfälle durch plötzlichen Herzstillstand während der Pandemie im Vergleich zu den Vorjahren um 58 Prozent gestiegen ist. Wiemer geht von einer ähnlichen Tendenz in Deutschland aus. &bdquo;Die Todesursache ist jedoch nicht immer bekannt, da nicht jeder Mensch nach seinem Tod obduziert wird. Zudem litten viele Patienten zwar an Covid-19, verstarben aber letztlich an einem Infarkt." "Niemand muss Angst haben, ins Krankenhaus zu kommen" Um Todesfälle und Folgeschäden aufgrund von Herz-Kreislauf-Problemen zu verhindern, hofft Wiemer, dass er und sein Team Patienten die Angst vor einer Ansteckung im Krankenhaus nehmen können. &bdquo;Deutschland und insbesondere OWL haben die Pandemie bislang glimpflich überstanden. Die Infektionszahlen sind sehr gering und die Sicherheitsvorkehrungen nach wie vor hoch. Daher muss niemand Angst davor haben, ins Krankenhaus zu kommen. Die Gefahr, an einem Herzinfarkt zu sterben, ist größer."