Vorfälle im Sport Emotionale Debatte in Gütersloh: "Sexuelle Gewalt fängt mit einem dummen Spruch an"

Gütersloh. Jan Hempel ist derzeit sicherlich der prominenteste Fall. In der viel beachteten ARD-Dokumentation &bdquo;Missbraucht – Sexualisierte Gewalt im Deutschen Schwimmsport“ erhob der heute 51-Jährige, bei Olympischen Spielen, Welt- und Europameisterschaften erfolgreiche Wasserspringer, schwere Vorwürfe gegen seinen ehemaligen Trainer. 14 Jahre lang, von 1982 bis 1996, habe sich der 2001 Verstorbene regelmäßig an ihm vergangen. Wegen Versagens der Überwachungs- und Kontrollfunktion verklagt der vierfache Europameister und olympische Silbermedaillen-Gewinner den Deutschen Schwimmverband derzeit auf Schmerzensgeld und Schadensersatz in Millionenhöhe. Ein Einzelfall ist dies nicht. Laut einer Studie der Bergischen Universität Wuppertal von 2020/21 gaben von 1.800 befragten Leistungssportlern zwei Drittel an, im Verein mindestens einmal eine Form sexualisierter Grenzverletzung, Belästigung oder Gewalt erfahren zu haben. Doch was ist &bdquo;Sexualisierte Gewalt“ im Sport überhaupt? Ist das schon ein Spruch unter die Gürtellinie, eine zu tief gerutschte Hand als Hilfestellung beim Turnen/Voltigieren, eine ungewollte Umarmung? Wo fangen Grenzüberschreitungen an? Welche rechtlichen und präventiven Möglichkeiten gibt es? &bdquo;Das sind Dinge, die sich mir als Vater nicht erschließen" Antworten auf diese und viele, viele Fragen wollte am Mittwochabend der Workshop &bdquo;Sexualisierte Gewalt im Sport“ im Kleinen Saal der Stadthalle Gütersloh liefern. Eingeladen dazu hatte als öffentliche Auftaktveranstaltung der im September 2022 gegründete Verein ARGE SportNet OWL um den Bielefelder Rechtsanwalt und Trainer/Vorsitzender des Boxclubs Gütersloh, Dr. Horst-Peter Strickrodt. Als Boxtrainer ist Strickrodt &bdquo;das Ausziehen der weiblichen Boxerinnen beim Wiegen vor der Jury“ aus ethisch-moralischen Gründen schon lange ein Dorn im Auge. Hans-Peter Strickrodt: &bdquo;Das sind Dinge, die sich mir als Vater nicht erschließen“. Als Grundlage für die von Moderator Wolfgang Wycisk (Düsseldorf) geleitete Podiumsdiskussion von den sieben Experten mit den gut 30 bis 40 Zuhörerinnen erläuterte ARGE-Mitglied und Rechtsanwältin Nicoline Schuleit zunächst den Begriff. Sexualisierte Gewalt sei der Oberbegriff für verschiedene Formen der Machtausübung mit den Mittel der Sexualität. Zu unterscheiden seien Fälle von sexueller Gewalt ohne direkten Körperkontakt (verbale Belästigungen, anzügliche Nachrichten, Exhibitionismus, Videos mit pornografischem Inhalt), mit direktem Körperkontakt (Vergewaltigungen, unangemessene Berührungen, ungewolltes Küssen) oder eben die nicht immer auf den ersten Blick erkennbaren Grenzverletzungen. Für die Bielefelder Fachanwältin für Sportrecht fängt sexuelle Gewalt da an &bdquo;wenn Personen, die individuelle Grenze bei anderen überschreiten. Entweder absichtlich – oder unabsichtlich“. &bdquo;Wenn man etwas sagt, ist die Karriere vorbei“ Nach Einschätzung des Moderators Wolfgang Wycisk würden Vereine auf entsprechende Vorwürfe oftmals mit drei Optionen reagieren: leugnen, verharmlosen oder verteufeln. Das Finden des goldenen Mittelweges im Täter-Opfer-Konflikt werde daher immer wichtiger. Nach den rechtlichen Ausführungen seiner Vorrednerin schilderte ARGE-Vorsitzender Horst-Peter Stickrodt seine Sicht zur Thematik &bdquo;Gewalt im Sportverein“. Nach Einschätzung des Fachanwaltes für Arbeits- Steuer- und Sportrecht &bdquo;gibt es keine Sportart, die davon ausgenommen ist“. Als Empfehlung sprach ARGE Vereinen und Verbänden die Empfehlung aus &bdquo;mit Verträgen und Satzungen bindende Ordnungen zu schaffen“. Bei Verstößen könnten dann strafrechtliche Maßnahmen, Disziplinargewalt oder im schlimmsten Fall Vereinsausschluss drohen. Der Rechtsanwalt wies die Vereinsvertreter noch auf einen großen rechtlichen Unterschied hin. Im Gegensatz zum Strafrecht gelte die Unschuldsvermutung im Vereinsrecht nicht. Hier könnten selbst Ermittlungen angestellt werden. &bdquo;Wenn man etwas sagt, ist die Karriere vorbei“ Das der Aufarbeitung oftmals entgegenstehende &bdquo;krasse Abhängigkeitsverhältnis“ in der Zusammenarbeit zwischen Trainern und Athleten schilderte Profi-Boxerin und Vize-Europameisterin Sarah Scheurich aus Sicht einer Spitzensportlerin. Durch die Erlebnisse einer Teamkollegin wurde die 29-Jährige zur Mitbegründerin der auch von vielen Männern getragenen &bdquo;Coach, dont touch me“-Bewegung. Die ehemalige Athletensprecherin schickte voran: &bdquo;Sexuelle Gewalt fängt nicht mit Vergewaltigung an, sondern mit einem dummen Spruch“. Doch wie geht man damit um? Sarah Scheurich: &bdquo;Wenn man etwas sagt, ist die Karriere vorbei, ehe sie angefangen hat“. Der Kollegin damals sei der Weg in die Öffentlichkeit damals nicht gut bekommen. Die Kampagnenmitbegründerin: &bdquo;Ihr ging es nicht besser als vorher. Von den Teamkollegen wurde sie anschließend gemobbt und bedroht“. Rechtsanwalt Christof Wieschemann aus Bochum wies im Rahmen der sehr emotionalen und mit jeder Menge Leidenschaft geführten Podiumsdiskussion zudem auf die Parallelen vom Missbrauch von Autoritäten und strengen Hierarchien in Kirchen und anderen Organisationen hin. Seiner Ansicht nach sollte der Sport nicht darauf hoffen, &bdquo;ausführliche Aufarbeitung oder Präventionsmaßnahmen schneller zu schaffen, als in der Kirche oder anderswo, die sich seit 30 Jahren mit dem Thema beschäftigen“. Wie vielschichtig, komplex, schwierig und umfassend die Problematik ist, wurde im Laufe der mehr als zweieinhalbstündigen Veranstaltung überdeutlich. Klar wurde auch: im Gegensatz zum Sport, wo Tore, Sekunden, Trefferanzahl, erzielte Weiten klar und eindeutig über Sieg und Platzierungen entscheiden, gibt es beim Thema &bdquo;Sexualisierte Gewalt im Sport“ keine Sieger. Um im Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnis – egal ob Spitzen- oder Breitensport – zwischen Trainer und Athlet nicht die Richtung zu verlieren, braucht es eine geerdeten ethisch-moralischen Kompass, feste Regeln und ein hohes Moralverständnis.

Mehr zum Thema