Familiensprechstunde Magersucht, Bulimie, Binge Eating: "Es geht um Macht und Kontrolle"

Frau Maßiny-Maaß, gibt es einen wichtigen Ratschlag, den Sie Eltern geben können, deren Kind unter einer Essstörung leidet? Sabine Maßiny-Maaß: Wichtig ist, zu verstehen, dass es bei einer Essstörung um tief liegende innere Konflikte geht, die Betroffene mit ihrem Essverhalten versuchen, zu kontrollieren, zu lösen und zu beseitigen. Für mich aber geht es innerhalb meiner Arbeit, der tiefenpsychologischen Psychotherapie, vordergründig nicht um das Essen. Viele Familien sind in Bezug auf die Essstörung in einem Teufelskreis aus Kontrolle, Streit, Ohnmacht und Macht gefangen. Denn die Betroffenen haben den in ihren Augen perfekten Weg gefunden, ihrem Leben wieder Orientierung und Sicherheit zu geben. Dieses Konzept verteidigen sie heftig und lassen sich das auch nicht wegnehmen. Deshalb nützt es auch nichts, wenn die Eltern die Jugendlichen zum Therapeuten zwingen. Wenn die nicht wollen, bleibt die Macht bei ihnen. Das heißt, Jugendliche, die unter einer Essstörung leiden, empfinden das Essverhalten nicht als falsch? Im Grunde nicht. Sie bekommen das zwar permanent von außen gespiegelt. Aber für sie selbst ist ihr Verhalten das perfekte Konzept, die ultimative Lösungsstrategie für ihre Konflikte. So verschaffen sie sich das Gefühl, ihr Leben im Griff zu haben und zu kontrollieren. Um gesund zu werden, müssen sie erst mal verstehen und einsehen, dass diese Strategie ein Problem ist – und damit ihr gesamtes Weltbild aufgeben. Aber haben Eltern hier keine Möglichkeit, einzuwirken? In vielen Fällen nicht. Wenn ich hier jemanden das erste Mal sitzen habe, prüfe ich als erstes die Motivation. Kommt die wirklich vom Patienten selbst? Und ist der Leidensdruck hoch genug, dass diejenige oder derjenige wirklich etwas verändern will? Ist das nicht der Fall, sage ich das: "Melde dich, wenn du spürst, dass du etwas verändern willst. Wenn du hier nur für deine Eltern sitzt, kann ich nichts bewirken." Aber was sind die Auslöser? Warum entwickelt jemand überhaupt das Bedürfnis, sich so zu verhalten? Grundsätzlich liegen einer Essstörung immer Autonomie-Abhängigkeits-Konflikte zugrunde. Es geht um Macht und Kontrolle, um Ablösung und Abgrenzung. Die Betroffenen haben für sich den Weg gewählt, sich emotional nicht abhängig zu machen von Dingen, auf die sie keinen Einfluss haben. Sondern sie machen sich abhängig von Dingen, die sie kontrollieren können. Das ist ein intelligentes Verhalten, für das man sehr diszipliniert sein muss. Das erklärt auch, weshalb viele Betroffene sehr leistungsorientiert sind. Häufig kommen Essstörungen in Familien vor, in denen Gefühle nicht nach außen gezeigt werden können – was aber gesund wäre. Oftmals gibt es Belastungen im Familiensystem, wie Alkoholismus, Missbrauch, Mobbing oder Todesfälle, bei denen die Eltern ihre Trauer oder Gefühle nicht zeigen konnten. Es kann aber auch die grundsätzliche Überzeugung eines Jugendlichen oder einer Jugendlichen sein, dass man, so wie man ist, nicht wert ist, geliebt zu werden. Mit ihrem Essverhalten begegnen die Betroffenen all diesen Gefühlen, kontrollieren sie, beseitigen sie. Zumindest nehmen sie das so wahr. Aber spielen Ideale über Körper und Maße bei einer Essstörung wie Magersucht oder Bulimie gar keine Rolle? Oberflächlich ja. Man muss sich das vorstellen wie bei einer Zwiebel: In den äußeren Schichten dreht sich alles um Körperwahrnehmung und Körpergefühl. Die Betroffenen sind davon beherrscht, das Ideal zu erreichen, was im Außen, viel auch durch die Medien, vorgelebt wird. Worum es in der Arbeit hier aber geht, ist der Kern der Zwiebel. Er besteht aus ungelösten Konflikten, weggedrückten Gefühlen. Hier schaue ich hin. So seltsam sich das anhört: In der Therapie thematisiere ich Essen und Gewicht kaum. Natürlich darf der Zustand der Patienten nicht lebensbedrohlich sein, da bin ich in Austausch mit dem behandelnden Arzt. Aber das Letzte, was viele Patienten aufgeben, ist die Kontrolle über ihr Gewicht. Das ist für sie eine Stütze, die ich ihnen auch nicht nehme. Nun ist ja Essstörung nicht gleich Essstörung. Völlig richtig. Es gibt verschiedene Formen, die auch ganz unterschiedliche Hintergründe und Ziele haben. Können Sie das genauer ausführen? Nehmen wir die Magersucht. Hier ist das hauptsächliche Motiv die Kontrolle. Magersüchtige bringen ihre Lebendigkeit zum Stillstand, verleugnen jegliche Bedürftigkeit nach was auch immer. Sie bringen sich dazu, nichts mehr zu brauchen. Wenn man so abgemagert ist, fühlt man irgendwann nichts mehr, es gibt keine emotionale Schwingungsfähigkeit mehr. Im ganz extremen Zustand kann ich mit diesen Patienten therapeutisch auch gar nicht arbeiten. Die müssen dann wirklich erst mal wieder etwas Gewicht zulegen. Mit jeder Kalorie kommen Gefühle zurück – natürlich auch jene, die die Patienten nicht haben wollen. Was passiert bei Bulimie? Bei Bulimie-Patienten geht es vorrangig darum, Dinge ungeschehen zu machen – im Verhalten, wie im Leben. Sie können Konflikte und Spannungen in ihrem Leben nicht mehr aushalten und versuchen so, sich ihrer zu entledigen und ihre Gefühle so in den Griff zu bekommen. Scham und Ekel stehen hier oft im Vordergrund. Und das Unvermögen, den Prozess der inneren Verarbeitung einfach geschehen zu lassen. Dazu gehört auch die Verdauung. Dinge einfach ihren Gang gehen zu lassen, das können diese Patienten oft nicht ertragen. Und was ist der Hintergrund von Binge Eating, also Ess-Attacken? Hier geht es auch um Grenzen, allerdings ist hier das Problem, dass diese Patienten die Grenzen nicht mehr haben. Hier gibt es ein unstillbares Verlangen, die innere, permanente Leere zu stopfen. Das Grundthema sind hier oft unerfüllte Sehnsüchte und das völlige Abgeben von Verantwortung für die eigene Person. Grundsätzlich gibt es aber für alle drei Formen bestimmte Verhaltensmuster und Gefühlswelten, die immer ähnlich sind. Es gibt die Selbstvorwürfe, die sich stark aus dem fehlenden Selbstwert ergeben. Dann gibt es die Fremdvorwürfe, das bedeutet, die Betroffenen lassen die Verantwortung nicht da, wo sie hingehört. Sie bauen häufig Erwartungshaltungen auf, Hoffnungen, dass andere merken, was sie eigentlich brauchen, was hinter ihrem Verhalten steht. Auch gibt es eine Form der Regression, die Betroffenen verhalten sich nicht altersgemäß, sondern gehen in kindliche Verhaltensweisen zurück. Und zuletzt gibt es Loyalitätskonflikte, das heißt, die Betroffenen meinen, loyal gegenüber einem Elternteil sein zu müssen, obwohl sie sich innerlich auch dem anderen Elternteil verbunden fühlen. Um noch mal auf den Beginn zurückzukommen: Heißt das denn wirklich, Eltern können nichts tun, wenn ihr Kind sich abmagert, übergibt oder vollstopft, so lange es selbst nicht bereit ist, dieses Verhalten zu ändern? Doch, drumherum gibt es vieles. Eltern können genau hinschauen und ihre Gesprächsbereitschaft anbieten. Dazu können sie sich gut informieren, indem sie selbst zu Beratungsgesprächen gehen und Hilfe in Anspruch nehmen. Sie sollten versuchen, sich frei davon zu machen, den Prozess steuern zu können. Das hilft erfahrungsgemäß sehr, um aus dem Teufelskreis aus Streit, Macht und Ohnmacht in der Familie einen Ausweg zu finden. Es gibt ein tolles Buch über Magersucht, aber der Untertitel gilt im Prinzip für alle Essstörungen. Es heißt: Wie viel wiegt mein Leben – warum wir bei Magersucht über den Tellerrand schauen müssen. Und das können Eltern eben auch tun. Ich appelliere auch immer an Eltern, dem Kind ein authentisches Gegenüber zu sein. Dabei bedeutet Stärke aber nicht, immer den Überblick über alles zu haben, die Dinge im Griff zu haben. Sondern Gefühle wie Schwäche, Ohnmacht zeigen zu können und zu signalisieren: Das darf alles sein und bedeutet nicht, dass alles verloren ist.

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