Region Verpflichtendes Gesellschaftsjahr? - "Jugend ist bereit, etwas zu tun"

Bielefeld. Vor ein paar Tagen ließ Georg Lunemann aufhorchen. In seiner Antrittsrede vor der Landschaftsversammlung forderte der neue Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) die Einführung eines verpflichtenden Gesellschaftsjahrs. Wenige Tage später erläuterte er beim Besuch der Redaktion von nw.de, was er darunter versteht und wie der Kommunalverband mit 19.000 Beschäftigten vor dem Hintergrund der vielen aktuellen Krisen die Zukunft erfolgreich meistern will. Zehn Stichworte für Georg Lunemann: Klartext Wie vermittelt man den Menschen in der Zeit steigender Energiepreise und einer immer noch nicht bewältigten Corona-Pandemie bestimmte Maßnahmen, die Einschränkungen von jedem Einzelnen verlangen? "Wichtig ist die Kommunikation", sagt Lunemann. "So reden, dass man es versteht." Das sei gerade für die Politik in Berlin wichtig. Wo die Möglichkeiten der Kommunikation endeten, müsse man versuchen, Dinge begreifbar zu machen. So wie in der aktuellen Ausstellung des LWL-Naturkundemuseums zum Klimawandel in Münster. Dort werde die Frage gestellt, was passiere, wenn die Welttemperatur im Durchschnitt um ein Grad Celsius steige. Die harte Antwort: "Die Antarktis ist weg." Gesellschaftsjahr Warum hat Lunemann ein allgemein verpflichtendes Gesellschaftsjahr gefordert? "Ich halte dies für wichtig, um die Versäulung der Gesellschaft aufzubrechen". Es sei wichtig, in jungem Alter Menschen mit ganz anderem gesellschaftlichen Hintergrund kennenzulernen. Ihn selbst habe der Dienst bei der Bundeswehr sehr geprägt, wo Leute durch die Wehrpflicht aus ganz unterschiedlichen sozialen Hintergründen miteinander auf engem Raum leben und voneinander lernen konnten. "Das Gesellschaftsjahr ist kein Notnagel", betont Lunemann. Die Jugend sei "hoch bereit, etwas zu tun". Man könne mit diesem Jahr "den gesellschaftlichen Kitt verbessern". Ein solches Jahr stelle er sich "möglichst nach der Schulausbildung der jungen Menschen vor". Solidarität Junge Menschen wachsen heute, so Lunemann, "ohne Wechselstube und ohne Schlagbaum auf, sie kennen nur ein grenzenfreies Europa". Das sei früher anders gewesen. Er selbst habe dieses unangenehme Gefühl erlebt, als er durch den Korridor der Transitstrecken mit dem Bus nach Westberlin gefahren sei. Der Zusammenhalt der Gesellschaft sei gerade in jener Zeit sehr bedeutend gewesen. "Es ist wichtig, Solidarität im Land zu zeigen. Alt und Jung dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Wir sind EINE Gesellschaft, nicht unterschiedliche Generationen." Corona Wie findet die Gesellschaft nachhaltige Antworten auf die Corona-Pandemie? "Ich würde mir wünschen, dass man eine klare Richtung hat", sagt Lunemann, vor allem an die Berliner Politik gerichtet. Das gelte zum Beispiel bei den Regeln für die vierte Impfung. "Wir werden uns angesichts eines Krisen-Knäuels von langer Planungssicherheit verabschieden müssen", sagt Lunemann, nicht nur auf die Coronakrise bezogen. Energiekrise Jeder Einzelne, aber auch große Einrichtungen wie der LWL, müssten sich die Frage stellen, was es bedeute, im kommenden Winter eventuell Energie in einem Umfang einsparen zu müssen, den man zuvor noch nicht gekannt habe. Zuvor müsse sich jeder die Frage beantworten, ob er selbst alles getan habe, sorgsam mit der Energie umzugehen. "Man muss vor allem schauen, was man selbst tun kann." Der LWL habe deshalb damit begonnen, Energiespar-Ideen für die kommenden Monate zu sammeln. Man könne Heizzeiten pro Tag einschränken, bei Brückentagen auf Homeoffice setzen und vieles mehr. Als Verband, der sich für Menschen mit Behinderungen und Kranke einsetze, appelliert Lunemann allerdings auch an die Politik: "Werft uns nicht mit Regelschulen in einen Topf." In Therapiebädern zum Beispiel könne man die Wassertemperatur nicht beliebig kühler machen. Kultur "Der Bildungsauftrag in der Kultur muss erhalten bleiben", sagt Lunemann. Deshalb dürfe man diesen Bereich "nicht in der Energiekrise opfern". Museen etwa für Monate ganz zu schließen, um Energiekosten zu sparen, komme aus seiner Sicht nicht infrage. "Kultur ist ein Thema, das gerade in Krisen wichtig für die Menschen ist." Der LWL sehe sich in der Rolle, eine "kulturelle Grundausrüstung zu bewahren". Es dürfe höchstens teilweise Einschränkungen der Betriebszeiten für ein bis zwei Monate im Winter geben, wenn dies Sinn mache. Der Winter Wie steht unsere Gesellschaft im Frühjahr 2023 da? "Die Probleme werden größer, wenn wir im Februar plötzlich 20 Prozent Energie sparen müssen." Deshalb hofft Lunemann auf einen milden Winter. Und er hoffe, weil eine Krise auch immer etwas Positives mit sich bringe, dass wir bis dahin schneller werden mit der Genehmigung erneuerbarer Energien. Und er hoffe, dass sich die Gesellschaft nicht auseinanderdividieren lasse in diejenigen, die Energie zum Heizen haben, und in diejenigen, denen das Gas für die warme Wohnung fehlt. Fachkräftemangel Angesichts des auch den LWL immer heftiger treffenden Fachkräftemangels plädiert Lunemann dafür, in manchen Bereichen des Sozialsektors darüber nachzudenken, "vorübergehend etwas mehr Beinfreiheit zu ermöglichen". So könne er sich eine Situation vorstellen, in der man prüfen müsse, ob man für eine neu errichtete Kita zunächst mit einem verkleinerten Team aus Mitarbeitenden an den Start gehen könne, als es vorgeschrieben sei. "Damit ist kein kalter Standardabbau gemeint", betont Lunemann. Er wolle aber nicht, dass eine neu gebaute Einrichtung gar nicht an den Start gehen könne, nur weil für sie nicht genügend Personal vorhanden sei. Fachkräfte aus dem Ausland anzuwerben, "damit löst man auf Dauer unser Problem nicht". Man solle vielmehr hierzulande dafür werben, diese tollen Berufe mit innerer Überzeugung zu ergreifen und nicht allein nur des Geldes wegen. Der LWL mit seinen insgesamt 19.000 Beschäftigten brauche pro Jahr 2.500 bis 2.800 Neueinstellungen, um die Belegschaft halten zu können und das für neue LWL-Aufgaben erforderliche Personal, zum Beispiel für Fallzahlsteigerungen in der Eingliederungshilfe oder in den LWL-Kliniken zu gewinnen. Demokratie Die eingangs erwähnte, notwendige Kommunikation zur Begleitung gesellschaftlicher Veränderungsprozesse müsse erklären, sie dürfe aber nicht vereinfachen. "Im radikalen Politik-Spektrum wird dies gemacht", so Lunemann. "Man muss deshalb die Sprache der Menschen sprechen." Tue man dies nicht, werde man nicht mehr gehört, und die Bürger fokussierten sich auf die einfachen Antworten, die populistische Kräfte in die Debatte einbrächten. "Die Bürgerinnen und Bürger müssen das Gefühl haben, man geht gerecht mit mir um. Vertrauen muss gestärkt werden." Im Ruhrgebiet heiße es aufgrund der Bergbau-Tradition und der Solidarität "unter Tage": "Glück auf!". Der LWL müsse für die Menschen genauso verlässlich sein, und ihnen dies auch vermitteln. "Tradition muss nach vorne gelebt werden", betont Lunemann. Geld Der LWL bewege pro Jahr mehr als 3 Milliarden Euro allein für die Unterstützung von über 85.000 Menschen mit Behinderung in Westfalen-Lippe. Aber man müsse zugleich wissen, dass man nicht alles nur mit Geld lösen könne. "Überall muss mitgedacht werden, Inklusion umzusetzen." Es sei ihm sehr wichtig, mit den anvertrauten Steuer-Mitteln verantwortungsvoll umzugehen.

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