Rechtsnationales Lager Rechtsextremer "Flügel" in der AfD: Wieso es Zweifel an der Auflösung gibt

Bielefeld. Eigentlich will der sogenannte "Flügel" der AfD Geschichte sein. Selbst aufgelöst. Weil der Verfassungsschutz die mehreren tausend Mitglieder als rechtsextrem eingestuft hatte. Doch es bestehen Zweifel an der Auflösung. Ein Urteil grenzt die Einschätzung des Nachrichtendienstes derweil ein.Unter euphorischem Applaus Dutzender Zuschauer betritt Björn Höcke Ende November 2018 die kleine Bühne im Saal eines ehemaligen Gasthofes in Augustdorf (Kreis Lippe). Hinter ihm: eine Leinwand. "Hermannstreffen" prangt in schwarzen Lettern auf dem weißen Grund, daneben das Logo des "Flügels". Ein Zusammenschluss aus AfDlern, der 2015 entstand. Die AfD sei in Gefahr, hieß es in der Erfurter Resolution, die als Gründung des "Flügels" gilt. Geschrieben von Björn Höcke, unterzeichnet von extrem rechten Politikern und Tausenden Mitgliedern der AfD.Höcke spricht an dem Tag im Kreis Lippe fast eine Stunde lang. "Europa ist nicht Brüssel", ist der Titel seiner Rede. Doch vorher ein paar freudige Worte. Immerhin, so sagt es Höcke, findet gerade das erste "Flügel"-Fest in NRW statt. Neben Höcke sind an dem Tag weitere Anhänger des Zusammenschlusses als Redner zu Gast. Zum Beispiel Andreas Kalbitz, Landtagsabgeordneter aus Brandenburg. Oder Thomas Röckemann aus Minden, der bis heute im NRW-Landtag sitzt. Ein "Flügel"-Anhänger aus Hamm filmt die Vorträge. Zwei Personen dankt Höcke vor seiner Rede ganz besonders - zwei "aufrichtigen Patrioten". Dem AfD-Landtagsabgeordneten Christian Blex, den Höcke als "Flügelkoordinator hier in NRW" bezeichnet. Und Matthias T.T. ist aktiver AfDler im Raum Paderborn, gründete unter anderem die Junge Alternative in der Region mit. Er ist Vorsitzender des AfD-nahen "Alternativen Kulturkongresses" - der Organisatorverein des "Hermannstreffs". Der "Alternative Kulturkongress" veranstaltet seit 2016 Treffen, zu denen führende Rechtsaußen-AfDler bis hin zu waschechten Rechtsextremen geladen werden. Zum Beispiel der rechtsextreme Youtuber Tim K. aus dem Kreis Lippe, zudem wurde bereits vor Jahren eine Veranstaltung mit dem Kopf der österreichischen Identitären Bewegung, Martin Sellner, beworben.Mehrfach zentrale "Flügler" in OWL Seit der Corona-Pandemie sind keine großen Veranstaltungen des Vereins mehr durchgeführt worden - zuletzt fand ein Online-Gespräch mit vier AfD-Politikern statt, die größtenteils dem "Flügel" zugerechnet wurden. Einer stand zuletzt im Fokus, da er laut Medienberichten Teil einer angeblichen "Flügel"-Reaktivierung in Niedersachsen gewesen sein soll. Ebenfalls dabei war der ehemalige Bundestagsabgeordnete Udo Hemmelgarn (Kreis Gütersloh), der eine Veranstaltungsreihe organisierte, deren Inhalte laut Verfassungsschützern zum Teil Reichsbürgerbezüge hatten. Zudem betreibt der "Alternative Kulturkongress" eine Nachrichten-Seite, auf der rechte und AfD-nahe Inhalte verbreitet werden.Der "Hermannstreff" 2018 war schon damals nicht das erste Treffen, bei dem eine zentrale Person des "Flügels" zu Gast war. Ein paar Monate zuvor referierte der extrem rechte Landtagsabgeordnete Hans-Thomas Tillschneider aus Sachsen-Anhalt über den Islam, und wieso dieser nicht zu Deutschland gehöre. Tillschneider steht im Kontakt mit anderen rechtsextremen Organisationen und Vereinen. 2019 folgte ein zweites "Hermannstreffen" in OWL, in dem der "Flügler" Dubravko Mandic aus Freiburg forderte, die AfD sollte sich nicht von der rechtsextremen "Identitären Bewegung" distanzieren. Es sind unter anderem Aussagen wie diese und Konstellationen wie die von Tillschneider oder seinem ehemaligen Parteikollegen Andreas Kalbitz, der Mitglied der rechtsextremen "Heimattreuen Deutschen Jugend" gewesen sein soll, die Partei mittlerweile verlassen musste und 2018 ebenfalls Redner beim "Hermannstreffen" war, die Verfassungsschützer alarmiert haben. Im März dann der Entschluss: Das Bundesamt für Verfassungsschutz bewertet den "Flügel" als "gesichert rechtsextremistische Bestrebung gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung". So wie es die Verfassungsschutzorgane in den Ländern nun auch tun. Der "Flügel" löst sich schließlich auf - auf Druck der AfD.Verfassungsschutz kann Fortbestand nicht belegen Zumindest will er das getan haben. Nachrichtendienste sprachen lange von einer "formalen Auflösung" des Personenzusammenschlusses. Internetauftritt und Onlineshop sind verschwunden. Das zentrale Treffen des "Flügels", das "Kyffhäusertreffen", findet nicht mehr statt. Doch viele "Flügler" sind trotz Auflösung weiterhin Mitglied der Partei. Mittlerweile erlitt der Verfassungsschutz eine juristische Niederlage, darf den "Flügel" nicht mehr als gesichert extremistisch führen - weil der Nachrichtendienst nicht beweisen konnte, dass der Zusammenschluss noch fortbesteht. So entschied es zumindest ein Gericht im März dieses Jahres, als es eigentlich primär um die Beobachtung durch den Nachrichtendienst der gesamten AfD ging. Die große Frage: Kann sich ein Personenzusammenschluss auflösen? Nein, meint zumindest Wolfgang Schroeder von der Uni Kassel mit Blick auf den "Flügel". Er beobachtet die AfD genau. "Dass der 'Flügel' im Grunde fortbesteht, ist bemerkbar", sagt er. "Durch die Auflösung hat man nur die Banderolen eingeholt. Protagonisten agieren auch heute weiter in der Partei, zum Teil so aktiv wie eh und je." Eine gewisse Skepsis deutet auch der NRW-Verfassungsschutz an, der in seinem aktuellen Jahresbericht von einem informellen Fortbestand schreibt. Vor allem in Kreisverbänden und sozialen Netzwerken habe sich der "völkisch-nationalistische Personenzusammenschluss", wie der "Flügel" umschrieben wird", etabliert. In den Spitzengremien in NRW habe der "Flügel" aber wenig Repräsentanz, in der Landes-AfD sei er nicht dominierend.Weiter Treffen mit "Flügel"-Bezug Doch das ist nicht überall so. Generell ist klar: Björn Höcke, der den "Flügel" initiiert hatte, nimmt innerhalb der AfD eine zentrale Rolle ein. Sein Rückhalt scheint in weiten Teilen der Partei enorm. Selbst im als eher gemäßigt geltenden NRW kommen Hunderte Besucher zu seinen Reden. Zuletzt war er zum Beispiel im Herbst 2021 in Paderborn, gut ein Jahr zuvor in Höxter. Zwei Kreise, in denen sich von Seiten der AfD eine Nähe zum "Flügel" erkennen lässt. Zum Beispiel in sozialen Medien. Oder anhand verschiedener Mitglieder. Oder anhand der vertretenen Positionen. "Die Strukturierung innerhalb der Partei ist insgesamt gleich geblieben", sagt Schroeder. Trotz Auflösung des Flügels.Und noch immer finden bundesweit Treffen statt, die Verfassungsschutzorgane und Beobachter als regelrechte "Flügel"-Treffen beschreiben. Zum Beispiel im Sommer 2020 in Northeim (Niedersachsen), an dem neben Björn Höcke und Andreas Kalbitz auch einige "Flügler" aus OWL teilnahmen."Beschlüsse werden immer radikaler" Auch die Positionen, mit denen sich der "Flügel" auszeichnet hatte, werden nach wie vor in Teilen der AfD vertreten. Zum Beispiel das völkische Konzept des sogenannten Ethnopluralismus, ein Ansatz der rechtsextremen Neuen Rechten. Schroeder beobachtet: "Beschlüsse aus Parteitagen werden immer radikaler." Ein Indiz dafür, dass das radikale Spektrum nicht nur weiter Teil der Partei ist, sondern auch immer mehr Einfluss bekommt. Rückhalt in der breiten Masse für Positionen wie diese scheint es trotzdem noch zu geben: Bei der Bundestagswahl vor gut einem halben Jahr kam die AfD auf mehr als zehn Prozent. Vor allem in ostdeutschen Bundesländern kommt die Partei auf viele Wähler. Und ausgerechnet hier spielen Vertreter des "Flügels" die größte Rolle. Noch immer.Doch was sagen Personen, die dem "Flügel" zugerechnet wurden, gut zwei Jahre nach der formellen Auflösung? Einer von ihnen ist der NRW-Landtagsabgeordnete Christian Blex aus dem Kreis Warendorf, den Björn Höcke als "'Flügelkoordinator' in NRW" betitelt hatte. Das Mitglied des Landesvorstands ließ eine Anfrage unbeantwortet.Andreas Keith, ebenfalls Mitglied des Landesvorstands, betont auf Anfrage derweil, dass die AfD in NRW generell nicht rechtsextrem sei, deswegen auch nicht vom Verfassungsschutz im Bundesland beobachtet werde. Er verweist zudem auf den Bericht des NRW-Verfassungsschutzes, der dem "Flügel" eine "geringe Repräsentanz in den Spitzengremien des Landesverbandes" attestiert und zudem schreibt, er "stellt einen nicht dominierenden Faktor im Landesverband der AfD dar". Die Frage, ob der "Flügel" fortbesteht, beantwortete er nicht - verweist aber auf das Urteil aus dem März: "Das Bundesamt für Verfassungsschutz darf die Strömung nicht mehr als gesichert extremistische Organisation führen."

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