Ukraine-Krieg Steinmeier in Kiew: "Die Menschen in der Ukraine brauchen uns"

Der Krieg macht keine Pause, auch für einen Staatsbesuch nicht. Allein am Vormittag wird zweimal Luftalarm ausgerufen für die Städte, die der deutsche Bundespräsident bei seinem unangekündigten Besuch in der Ukraine an diesem Dienstag bereist: einmal in Kiew, nur Stunden nach Frank-Walter Steinmeiers frühmorgendlichem Eintreffen per Bahn; später, kurz nachdem er mittags im Städtchen Korjukiwka nordöstlich der Hauptstadt ankommt. Und so findet das Gespräch mit Bewohnern und Lokalpolitikern dort statt, wo alle für einen Moment gleich sind, weil sie alle Schutz suchen vor der gleichen Bedrohung: im Luftschutzkeller. Nahezu täglich gebe es Fliegeralarm, erzählen die Ukrainer dem Staatsgast; er versichert sie der anhaltenden Solidarität Deutschlands mit ihrem Land. Es ist das erste Mal seit dem russischen Überfall, dass der Bundespräsident die Ukraine besucht – aber keineswegs das erste Mal überhaupt. Im Gegenteil: Kein anderes Land hat seine Arbeit nach 2014 so geprägt, hatte Steinmeier schon im Frühjahr gesagt, und tatsächlich verbindet ihn seit seiner Zeit als Außenminister eine lange, wechselvolle Geschichte mit der Ukraine. Allein dieser Besuch im Kriegsgebiet brauchte drei Anläufe, wobei lediglich einer davon, am vergangenen Donnerstag, an Sicherheitsbedenken deutscher Behörden scheiterte. Vorher hatte es schon heftige diplomatische Verstimmungen zwischen der ukrainischen Regierung um Präsident Wolodymyr Selenskyj gegeben, nachdem Kiew Steinmeier im April regelrecht ausgeladen hatte. Die Irritationen sind inzwischen ausgeräumt, auch durch eine Versetzung des langjährigen Botschafters Andrij Melnyk. Aber Steinmeiers lange Geschichte mit der Ukraine bleibt, und sie bleibt komplex. Steinmeier will &bdquo;Zeichen der Solidarität“ senden &bdquo;Mir war es wichtig, gerade jetzt in dieser Phase der Luftangriffe mit Drohnen, Marschflugkörpern und Raketen, ein Zeichen der Solidarität zu senden“, sagt Steinmeier den wenigen mitgereisten oder vor Ort arbeitenden Journalisten, als er am frühen Dienstagmorgen mit dem Nachtzug im noch finsteren Kiew ankommt. Die deutschen Vertreter vor Ort waren der Meinung, die Lage auf ausgewählten Routen und mit verkleinerter Delegation sei sicher genug. Im Moment ist nach dem starken Beschuss der vergangenen Wochen etwas Ruhe eingekehrt. US-Experten vermuten, dass es der russischen Armee an Munition mangelt. Doch vor kurzem noch hat Russland aus der Luft immer wieder die Strom- und Wärmeversorgung schwer beschädigt. Vielen Ukrainern droht ein eisiger und dunkler Winter. &bdquo;Ich schaue wie viele Deutsche voller Bewunderung auf die Menschen hier in der Ukraine“, sagt Steinmeier, &bdquo;auf ihren Mut, auf ihre Unbeugsamkeit, die sie zeigen nicht nur an der Front, sondern auch in den Städten, die beschossen werden, und auch im ländlichen Raum.“ Bevor er es endlich zu dem monatelang erwarteten Treffen Steinmeiers mit Selenskyj kommt, will sich der Bundespräsident ein eigenes Bild vom Kriegsgebiet machen. Er tut es am Abend in Kiew mit Bürgermeister Vitali Klitschko. Vor einem zerstörten Haus, in dem am 17. Oktober vier Menschen bei einem Luftangriff starben, bleiben sie stehen. &bdquo;Das ist ein historisches Zentrum. Hier gibt es kein Militär“, sagt Klitschko und bringt damit zum Ausdruck, dass Moskau keinen Unterschied macht zwischen militärischen und zivilen Zielen. Steinmeier übergibt Hilfsgüter Vor allem aber will Steinmeier mit der Zivilbevölkerung reden. Bei dem Gespräch im Luftschutzkeller etwa erzählt eine Frau aus Korjukiwka unter Tränen vom Kriegsbeginn am 24. Februar, eine andere von ihrem Mann, der gegen die Russen kämpft: &bdquo;Mein Mann ist an der Front, an der heißesten Front.“ Das nordukrainische Städtchen nahe der belarussischen Grenze hat Steinmeier aus vielerlei Gründen für den Besuch gewählt. Der wichtigste: Zu Kriegsbeginn war Korjukiwka von russischen Truppen besetzt, es hat sich befreiet, kämpft aber nun mit zerstörter Infrastruktur und Versorgungsengpässen. Steinmeier übergibt deshalb auch Hilfsgüter für den Winter. Hinzu kommt, dass er den Ort kennt: Im Oktober 2021, knapp fünf Monate vor dem Krieg, hat er hier als oberster Repräsentant der Deutschen des Massakers gedacht, das die Wehrmacht 1943 an der Zivilbevölkerung verübte. Er hielt Kontakt zum Bürgermeister, das Treffen am Dienstag ist ein Wiedersehen. Ein heikler Umgang Überhaupt ist Steinmeier seit seiner Zeit als Außenminister eng mit der Ukraine verbunden: Im Februar 2014 wurde ihm zugeschrieben, hier einen Bürgerkrieg abgewendet zu haben, weil er die prorussische Janukowitsch-Regierung und die Maidan-Opposition wieder an einen Tisch brachte; ein Jahr später wirkte er am Minsker Abkommen zwischen der Ukraine und Russland mit, das die Kämpfe im Osten des Landes beenden sollte. Und als die Umsetzung stockte und Waffenruhen brachen, ersann er einen Weg zur Deeskalation, indem er auch Zugeständnisse an Russland vorschlug: die &bdquo;Steinmeier-Formel“. Sie scheiterte zunächst. Als Selenskyj sie nach seinem Wahlsieg erneut ins Spiel brachte, demonstrierten Tausende ukrainische Nationalisten dagegen. Der Präsident machte umgehend einen Rückzieher. Spätestens seitdem ist der Umgang mit Steinmeier in Kiew heikel. So erklärt sich auch die Ausladungsepisode vom Frühjahr. Der Bundespräsident selbst räumte danach frühere Fehleinschätzungen im Umgang mit Russland ein, als Vermittler scheidet er inzwischen aus. Seine erste Kiew-Reise in Kriegszeiten nutzt Steinmeier auch für einen Appell an seine Landsleute, die daheim gerade viel über Gaspreisdeckel und kalte Wohnungen sprechen: &bdquo;Vergessen wir nicht, was dieser Krieg für die Menschen hier in der Ukraine bedeutet, wie viel Leid, wie viel Zerstörung herrscht“, mahnt er. &bdquo;Die Menschen in der Ukraine brauchen uns.“ Er verspricht, die Deutschen würden sie &bdquo;auch weiterhin unterstützen – wirtschaftlich, politisch und auch militärisch“. Schon jetzt ist die Bundesrepublik für die ukrainische Luftabwehr der führende militärische Ausrüster, betont das Bundespräsidialamt anlässlich der Reise. Doch Steinmeier setzt noch einen anderen Akzent, auch beim Termin mit Selenskyj: Neben militärischer Hilfe müsse es schon jetzt um den Wiederaufbau gehen – schon allein, damit die Menschen in den zerstörten Städten den Winter überstehen. Zeitgleich findet in Berlin eine Expertenkonferenz dazu statt. Selenskyj dankt Deutschland: Damit trage die Bundesrepublik zum Frieden in der Ukraine bei. Dies sei &bdquo;groß und historisch wichtig“. Mehr Partnerschaften denn je Weil aber die zivile Hilfe und die deutsche Unterstützung beim Wiederaufbau nicht zuletzt über Städtepartnerschaften und kommunale Kontakte sowie über Bürgerinitiativen und Vereine umgesetzt wird, wollen die beiden Präsidenten solche Verbindungen verstärken: Gemeinsam erklären sich Steinmeier und Selenskyj zu Schirmherren über das Deutsch-Ukrainische Städtepartnerschaftsnetzwerk und rufen Städte und Gemeinden in beiden Ländern auf, neue Partnerschaften zu bilden. &bdquo;Sie sind ein entscheidender Kanal für effektive, konkrete Hilfe und Solidarität vor Ort“, erklärt Steinmeier. Schon jetzt umfasst das Netzwerk 107 Verbindungen. Eine weitere hat der Bundespräsident persönlich angebahnt: Nachdem ihm der Bürgermeister von Korjukiwka vor einem Jahr vom Wunsch nach einer Städtepartnerschaft mit Deutschland erzählt hatte, hat Steinmeier den Kontakt mit der Stadt Waldkirch im Breisgau hergestellt. Damit sind seit Kriegsbeginn 35 deutsch-ukrainische Partnerschaften neu hinzugekommen.

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