Russischer Angriff Wie gefährlich ist die Lage am Atomkraftwerk? Das sagen Experten

Es war ein Moment kollektiven Luftanhaltens: Russische Truppen haben in der Nacht zu Freitag offenbar das größte europäische Atomkraftwerk (Akw) nahe der ukrainischen Großstadt Saporischschja beschossen. Dabei wurden nach Angaben der Ukraine ein Ausbildungszentrum und ein Labor getroffen, ein Feuer brach aus. Sofort wurden Erinnerungen wach an die schreckliche Nuklearkatastrophe in Tschernobyl 1986. Auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bemühte in einer Videobotschaft den Vergleich. Allerdings: Die Reaktoren wurden entgegen erster Meldungen aus dem Kraftwerk nicht getroffen. Den Berichten zufolge sei auch nur einer von sechs Reaktoren online, allerdings enthielten einige der nicht aktiven noch Brennstäbe. Das Feuer war am frühen Morgen bereits gelöscht, hieß es von der Feuerwehr. Diese allerdings will stundenlang am Zugang zum Brandherd gehindert worden sein. Erhöhte Strahlung sei nicht registriert worden, teilte die Internationale Atomenergiebehörde mit. Wie gefährlich war der Brand? Sind die Reaktoren überhaupt mit dem in Tschernobyl vergleichbar? Und wie sind sie gegen äußere Einflüsse wie direkten Beschuss geschützt? Internationale Experten erklären die Lage - und worauf es bei der Sicherheit ankommt. "Auch wenn der Reaktorbetrieb stabil bleiben sollte, sind die Gefahren immens" Der Atomkraftexperte Michael Sailer hat vor unabsehbaren Gefahren aufgrund der Entwicklung im ukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja gewarnt. "Auch wenn der Reaktorbetrieb stabil bleiben sollte, sind die Gefahren immens", sagte Sailer dem "Handelsblatt" am Freitag. Der Experte verwies auf die großen Lager für abgebrannte Brennelemente, die in Saporischschja in unmittelbarer Nähe der Reaktoren stünden. Die Brennstäbe müssten permanent mit Wasser gekühlt werden, sagte Sailer der Zeitung. "Sollte das Kühlwasser - etwa aufgrund von Explosionen oder durch Beschuss - austreten, wäre die Kühlung der Brennelemente gestört oder würde komplett ausfallen. Es ließe sich dann kaum mehr vermeiden, dass es nach wenigen Tagen zu einer massiven Freisetzung von Radioaktivität käme", sagte Sailer. Außerdem gebe es in Saporischschja auch ein Behälterlager ohne Kühlwasser. "Auch dort könnte ein massiver Beschuss zu Radioaktivitätsfreisetzungen führen", sagte Sailer. Auch ein Worst-Case-Szenario ist nach Sailers Einschätzung nicht auszuschließen: "Sollte die Stromversorgung zusammenbrechen und sollten gleichzeitig die Notstromaggregate an den Atomkraftwerken ausfallen, ließe sich eine Kernschmelze kaum mehr aufhalten. Dann hätten wir ein zweites Fukushima", warnte Sailer, der lanjährig Chef des Öko-Instituts war und unter anderem der Reaktor-Sicherheitskommission angehörte. "Die Wahrscheinlichkeit, dass wir hier in einem größeren Maß betroffen sind, ist sehr, sehr gering" Nach Ansicht des Nuklear-Experten Wolfram König besteht für Deutschland keine Gefahr. Selbst bei einem "ganz großen Unfall, der nicht ausgeschlossen werden kann oder eben hier durch den Beschuss einer derartigen Anlage entstehen könnte", sei "die Wahrscheinlichkeit, dass wir hier in einem größeren Maß betroffen sind, sehr, sehr gering", sagte der Präsident des Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung dem Radiosender "Bayern2" am Freitag. Allerdings wisse man nicht, wie der russische Präsident Wladimir Putin die Eskalation gegen die Ukraine noch vorantreiben werde. "Grundsätzlich ist es so, dass die Anlagen nicht ausgelegt sind, jeglichen militärischen Angriffen auch standzuhalten." Wenn sie nicht systemisch heruntergefahren werden können, könne es zu kritischen Situationen kommen. In einer solchen Situation sei es generell sicherer, Atomkraftwerke vom Netz zu nehmen. Auch internationale Experten haben sich zur Lage geäußert. Hier ihre Einschätzungen im Wortlaut: "Keine Reaktoren wie in Tschernobyl oder Hiroshima" "Die sechs Kernreaktoren in Saporischschja sind keine vom Typ wie in Tschernobyl. Im Unterschied zu diesem gibt es dort eine Eindämmung, die jegliches Entweichen von Radioaktivität stoppt. Und im Unterschied zu Fukushima verfügen sie über separate Wasserkreisläufe, um den Reaktor zu kühlen und Dampf zu erzeugen. Zusätzlich gibt es ein weiteres Notfallkühlungssystem, dass den Reaktor im Falle eines Problems passiv kühlt. [...] Das Feuer soll in einem Ausbildungsgebäude ausgebrochen sein. Der Reaktor ist aber von einem massiven Schutzmantel aus Beton umgeben, der ihn vor Feuer schützt." Tony Irwin, Technischer Direktor von SMR Nuclear Technology und Ehrenprofessor an der australischen Nationaluniversität in Canberra "Sorge nicht wegen möglicher Explosion" "Zur Zeit scheint es, als seien von den russischen Raketen nur nachrangige Gebäude getroffen worden. Die wahre Sorge ist nicht, dass es eine katastrophale Explosion geben könnte, so wie in Tschernobyl geschehen, sondern Schäden am Kühlungssystem, das auch gebraucht wird, wenn der Reaktor heruntergefahren ist. Es war solch ein Schaden, der zum Zwischenfall in Fukushima führte." David Fletcher, Professor an der Fakultät für Chemie und Biomolekulare Technologie der Universität von Sydney "Das wäre katastrophal" "Es gibt ernstliche Sorge wegen einer möglichen Kernschmelze, sollte irgendein Teil des Reaktorkerns getroffen werden. Das wäre katastrophal. Wir müssen außerdem wissen, ob das Kraftwerk heruntergefahren wurde - und woher Energie von außen kommt. Sollte die Verbindung zum Stromnetz unterbrochen sein, sind wir (am Kraftwerk, Anmerkung d. Redaktion) auf Notstromaggregate angewiesen, die mit Diesel betrieben werden - und eine massive Brandgefahr darstellen." Maria Rost Rublee, Professorin für Politik und internationale Beziehungen an der Monash University in Melbourne Redaktioneller Hinweis: Mit Material von epd und dpa; Die Zitate der vier letztgenannten Experten wurden vom Science Media Center Australien eingeholt.

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