Bielefeld. Hoch oben auf dem Dach eines Londoner Kaufhauses, Symbol der kapitalistischen Warenwelt, lässt Regisseur Michael Heicks seine Inszenierung von Bertolt Brechts "Dreigroschenoper" am Bielefelder Stadttheater spielen. Als hätte die Welt der Ganoven hier oben in schwindelnden Höhen mit der bürgerlichen Welt da unten nichts zu tun, ja tanze ihr womöglich auf dem Kopf herum.
Doch der Schein trügt. Die Welt da oben ist nur ein Spiegelbild der Welt da unten, und durch Luken und Leitern sind beide zusätzlich miteinander verbunden. Eine Welt, in der "erst das Fressen kommt, dann die Moral".
So wollte Brecht seinen Klassiker von 1928, zu dem Kurt Weill seine fantastische Musik beisteuerte, verstanden wissen - als Parabel auf die korrupte bürgerliche Welt, die ihr wahres Antlitz verschleiert. So servierte auch das Regieteam um Michael Heicks das immer noch frische Stück am Samstagabend.
Zäher Beginn
Doch das begann erstaunlich zäh, vielleicht auch, weil die Macher zu viel wollten, einen Erzähler (Stefan Imholz) einschoben, der Brechts Theatertheorie kommentierend einstreute, um das Stück zu verfremden, ganz so, wie Brecht es selbst forderte - damit Zuschauer und Schauspieler sich nicht einfach nur einfühlen, sondern distanziert betrachtend und zeigend etwas lernen. Das aber tat dem Beginn nicht gut - Ensemble und Zuschauer kamen schwer rein.Doch je mehr die Destruktion durch den Erzähler in den Hintergrund rückte und der Plot ungestört in Fahrt kommen konnte, desto stärker spielte das Ensemble auf, entfaltete die Oper dank einer zunehmend revuehaften Inszenierung samt starker schräger Gesangseinlagen und einer unter William Ward Murta glänzend aufspielenden Band seine ganze Frische und Kraft.
Es ist eine völlig korrupte Welt dort oben auf dem Dach (Bühnenbild: Timo Dentler), eine Gesellschaft, "in der jeder Mensch seinen Preis hat". Eine Welt, in der weder Liebe noch Solidarität gedeihen können, in der Geld und Geschäfte alle Lebens- und auch Liebesbeziehungen korrumpieren. Königen gleich leben sie hier oben - Jonathan Peachum (Thomas Wolff), Inhaber der Firma "Bettlers Freund", der zusammen mit seiner versoffenen Frau (Carmen Priego) und Tochter Polly (Julia Friede) Geschäfte mit der Armut betreibt.
Ganoven liefern sich ans Messer
Auch sein Gegenspieler Mackie Messer (Thomas Wehling) ist hier zu Hause. Der Dandy, Verbrecher und Frauenheld, ist Anführer einer irrwitzigen Gaunerbande, die plündert, stiehlt, vor körperlicher Gewalt nicht zurückschreckt, aber auch beste Beziehungen zu Sheriff Brown (Oliver Baierl) hat.Aber auch sich selbst liefern die vier Ganoven - stark gespielt von Norman Grüß, Lukas Graser, Omar El-Saeidi und Niklas Herzberg und mit Kostümen von Okarina Peter wunderbar schrill und quer durch alle Zeiten ausstaffiert - gerne gegenseitig ans Messer. Erst kommt eben das Fressen, dann die Moral.
Doch die schöne Welt der Ganoven, die ihre Reviere aufgeteilt haben - wie Konzerne ihre Einflusssphären - gerät ins Wanken, als Mackie Peachums Tochter Polly heimlich heiratet. Der Vater will den Konkurrenten hängen sehen. Der Krieg beginnt. Das Stück wogt hin und her. Spelunkenjenny (Christina Huckle), einstige Geliebte Mackie Messers und Hure, verrät ihn gegen Geld. "Denn die Verhältnisse, die sind nicht so."
Schön überdreht
Wolff, Priego, Friede, Baierl, Huckle und Wehling spielen in all den schrillen Szenen mit sichtlicher Freude an ihren Figuren groß auf, treiben mit ihrem intensiven, teils irrwitzig-komischen Spiel die Handlung immer weiter voran. Ein Genuss. Julia Friedes Gesangseinlagen sind großartig, reißen in ihrer Überdrehtheit mit. Huckle ist trotz ihrer eher kleinen Rolle unglaublich präsent, und ihre dunkle Sangesstimme verzückt.Mackie landet derweil unter dem Galgen und muss erkennen, dass nicht nur seine Ganovenjungs von ihm abfallen, auch Polly, Lucy (stark: Charlotte Puder) sowie der korrupte Polizist (schön überdreht: Johannes Lehmann) stehen ihm aus lediglich einem Grund nicht mehr bei - er hat kein Geld in der Tasche, um sie zu bestechen. Jeder ist sich eben selbst der Nächste. Solidarität gibt es nicht. "Die Verhältnisse, die sind eben nicht so."
Dennoch rettet am Ende ein völlig unvermittelt auftauchender reitender Bote der Königin den Verbrecher. Eine irre Szene. Mackie wird nicht nur begnadigt, sondern zudem in den Adelsstand erhoben und zieht ein - Achtung, verzichtbarer Kalauer - ins Schloss "Bellevue". Mit einem furiosen Schlusschoral, der dazu auffordert, "das Unrecht nicht zu sehr zu verfolgen", und die Begnadigung eines Verbrechers feiert, klingt das Stück aus. Dreigroschenoper vom Feinsten ist das.
Starke Inszenierung
Eine starke Inszenierung trotz des zähen Beginns. Beste Unterhaltung dank eines lustvoll aufspielenden Ensembles. Und die verhängnisvollen Verhältnisse? Die sind eben so. Weiterhin.INFORMATION
Termine, Karten
- Weitere Vorstellungen der "Dreigroschenoper" von Bert Brecht und Kurt Weill: 21., 25., 26. und 29. Januar, 5., 14., 15., 17., 23., 24. und 26. Februar, 20. März, 3., 14. und 30. April sowie am 16. Mai und 14. Juni.
- Karten gibt es unter Telefon (05 21) 555-444.
- Weitere Informationen unter www.theater-bielefeld.de