Interview Christopher von Deylen: "Ich sage Ihnen, das waren bizarre Gedanken"

Bielefeld. Herr von Deylen, Sie sind als Künstler stark mit der Ukraine verbunden – in welchem Verhältnis stehen Sie zu dem Land? CHRISTOPHER VON DEYLEN: Seit 2011 sind wir regelmäßig in Kiew aufgetreten. Ich habe dort auch immer wieder Freunde privat besucht. Als vor einem Jahr der Krieg begann, saß ich Tag und Nacht vor dem Fernseher und schaute Al Jazeera und CNN. Ich bekam ein trauriges Gefühl der Hilflosigkeit und stellte mir für einen Sekundenbruchteil vor, wie es denn wäre, wenn ich als Obergefreiter der Reserve da hingehe, um zu helfen. Ich sage Ihnen, das waren bizarre Gedanken. Stattdessen habe ich dann in großer Menge Zahnpasta, Seife und Kuscheltiere in meinen Kofferraum geladen und bin damit nach Warschau gefahren. Eigentlich wollte ich diese Hilfsgüter dort nur abgeben. Und was passierte dann? Ich wurde spontan gefragt, ob ich nicht mithelfen möchte, Sandwiches für die stündlich ankommenden ukrainischen Geflüchteten zu machen. Ich habe das einen Tag lang gemacht und mich dann gefragt, was es am Ende geholfen hat. Aber meine polnischen Freunde meinten, wenn jeder so denken würde, würde ja gar nichts Gutes passieren. Da hatte ich das Gefühl, ein mikroskopisch kleiner Teil von etwas Schönem zu sein. Unser Gehirn wird derzeit von schlechten Nachrichten überflutet. Was macht das mit Ihnen persönlich? Bei mir hatte sich ein tief empfundener Weltschmerz manifestiert. Ich habe zum ersten Mal in meinem Leben den regelmäßigen Konsum von täglichen Nachrichten eingestellt, wodurch es mir ad hoc besser ging. Das hat auch erst dazu geführt hat, dass ich mich überhaupt dem Komponieren widmen konnte. Im Iran, wo Sie 2017 als erster westlicher Künstler seit 40 Jahren aufgetreten sind, protestiert die Bevölkerung seit Monaten vehement gegen das Mullah-Regime. Haben Sie damals erwartet, dass das Land sich mehr öffnet? Ja, damals bestand die Hoffnung, dass die Dinge sich langsam verbessern würden. Ich war 2017, 2018 und 2019 für Konzerte im Iran. Das hat man als kleines Signal genommen, dass eine größere Toleranz gegenüber der eigenen Bevölkerung entsteht und der Westen parallel die Sanktionen lockern könnte. Ich habe in Teheran Aufnahmen für mein Album "Morgenstund" gemacht und stehe mit vielen Menschen im Iran in regelmäßigem Kontakt. Seit einiger Zeit aber nur noch über WhatsApp und Instagram. Leider hat sich der leise Optimismus inzwischen wieder eingetrübt. Der Anschluss an die restliche Welt ist für Iraner:innen, die daran durchaus Interesse haben, sehr schwer. Woran liegt das? Es gibt im Land aufgrund der Sanktionen beispielsweise kein Paypal und keine gängigen Kreditkarten. Aber das gegenwärtige Aufbegehren scheint anders zu sein, als die Unruhen von früher, die sich auf begrenzte Teile der Bevölkerung beschränkten. Es wird als Fingerzeig darauf gesehen, dass die Situation sich vielleicht doch eines Tages verändern könnte. Gleichzeitig gibt es, soweit ich das von hier aus beurteilen kann, keine einigende Alternative zum gegenwärtigen Regime. Dennoch habe ich mich nicht davon abhalten lassen, nach "Morgenstund" wieder mit der Iranerin Yalda Abbasi zusammenzuarbeiten. Sie singt und spielt das Saiteninstrument Dotar. Es hat einen ganz besonderen Sound. Könnten Sie Ihr Album auch im Iran veröffentlichen? Nein. Selbst wenn ich eine reguläre Veröffentlichung machen wollte, würde es aufgrund der Wirtschaftssanktionen gar nicht gehen. Aber auf den verschlungenen Pfaden der Online-Welt findet Musik natürlich dorthin. Das Internet war auch der Grund dafür, weshalb sich im Iran überhaupt ein sehr großes Schiller-Publikum formiert hat. Mit Hits wie "I feel you" vom Beginn der 2000er Jahre sind Sie bei den iranischen Fans populär geworden ist. Was verbinden die mit Ihrer Musik? Ich habe darauf keine eindeutige Antwort. Ich pflanze zumindest nicht bewusst Botschaften in meine Musik ein. Ich würde sie eher als emotional beschreiben. Es ist so, dass die Iraner sich uns sehr nah fühlen, viel näher als umgekehrt. Sie sind der Auffassung, dass unsere beide Völker dieselben Wurzeln haben. Wenn man sich zum Beispiel mit den Gedichten von H?fez beschäftigt, wird man mit unheimlich romantischen Bildern konfrontiert. Die Metaebene, die es in melancholischen Liebeserklärungen wie "I feel you" zu geben scheint, hat im Iran ein großes Echo gefunden. Sie hat rein gar nichts mit Politik zu tun. Die Iraner nehmen sich einfach Zeit zu träumen und haben einen bewundernswerten Hang zu Tiefe. Ein anderes Stück auf dem Album heißt &bdquo;Reisefieber“. Haben Sie Fernweh nach dem Iran? Ich würde sehr gern wieder in den Iran reisen. Es ist eine tolle Kultur, und vor Ort bietet sich ein ganz anderes Bild als in der Tagesschau. Es kann durchaus sein, dass ich dort auf absehbare Zeit kein Konzert mehr werde spielen können, was mir wahnsinnig leid täte. Ich vermisse das Land und die Menschen. In dem Hotelzimmer in Teheran, in dem ich immer untergebracht war, habe ich nach unserem letzten Auftritt eine Tasse aus der Nescafé-Minibar eingepackt. Manchmal hole ich sie hier aus dem Schrank, mache mir einen Kaffee, denke an den Iran und gebe mich dem heimatlichen Fernweh hin. Tatsächlich habe ich ChatGPT schon gebeten, mir einen romantisch-melancholischen Songtext zu schreiben. Könnten Sie sich vorstellen, auch einmal mit der KI ChatGPT zu arbeiten? Das, was innerhalb von vier Sekunden auf dem Bildschirm erschien, hat mich gleichzeitig erschaudern lassen und fasziniert. Denn es war ein unglaublich schöner, sich reimender Text mit tollen Metaphern. Verwendet habe ich ihn aber nicht (lacht). Ich kann noch nicht beurteilen, ob das vertretbar ist. Bekommt der Text einen Makel, weil er aus dem Nirvana der Algorithmen kommt? Ich glaube allerdings fest, dass die Emotion, die bei einem Konzert entsteht, wo Menschen für Menschen Musik machen, immer noch am Schönsten ist. Neil Young nimmt seine Alben am liebsten bei Vollmond auf – wegen der Energie. Ist Ihr Stück "Lets watch the Stars" auch auf diese Weise entstanden? Nein, es ist hier im Norden bei Neumond in einer sternenklaren Nacht entstanden, wo der Himmel pechschwarz war und die Sterne dafür umso kontrastreicher. Wenn man das Haupt erhebt, gen Himmel blickt und sich einmal vor Augen führt, dass wir wirklich nur ein ganz kleiner Teil von allem sind, dann tut das gut. "Illuminate" kommt in Dolby Atmos daher, dem Tonformat der Stunde. Ist es wirklich so viel besser als Dolby Surround & Co.? Ja. Dolby Atmos erzeugt eine wahnsinnige Höhe, Tiefe und Breite, die man erstaunlicherweise erst dann richtig spürt, wenn sie nicht mehr da ist. Es ist ein Spezialformat, das man sicherlich mit dem Kopfhörer simulieren kann, aber mit einem diskret installierten Lautsprechersystem im Wohnzimmer kann man eine faszinierende Räumlichkeit erleben. Es wird vermutlich eher eine Nische bleiben, aber eine schöne Nische (lacht). Ich denke, dass sich meine Musik sehr gut dafür eignet.

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