Interview Michael Patrick Kelly: "Ich bekomme jedes Mal Gänsehaut“

Michael Patrick, beginnen wir das Gespräch doch mit einem Rückblick aufs vergangene Jahr. Was war Ihr persönliches Highlight 2022? MICHAEL PATRICK KELLY: Dass ich wieder auf Tour gehen konnte. Der Lieblingsteil meines Berufes besteht ja darin, Songs zu schreiben und diese dann live gemeinsam mit Publikum zu erleben. Das hat mir sehr gefehlt in der Corona-Zeit. Sie waren vor Corona immer sehr publikumsnah – hat sich das Verhältnis zu den Fans verändert? Ich mag nach wie vor Menschennähe. Deshalb gibt es bei meinem Konzert auch die &bdquo;Boat“- Stage. Mit dem gelben Boot, das auf dem &bdquo;B.O.A.T.S.“-Album-Cover zu sehen ist, fahre ich zwischendurch durch die Menge. Ich kann den Leuten dabei sehr nah sein und direkt in ihre einzelnen Gesichter sehen. Das ist sehr emotional. Ich finde, Konzerte bieten besonders in schwierigen Zeiten mehr als nur Entertainment. Musik kann auch etwas Therapeutisches haben. Inwiefern? Viele Menschen haben in den vergangenen drei Jahren einiges aufgestaut und emotional schlucken müssen, um über die Runden zu kommen. Und eine Krise folgt ja der nächsten. Die Musik schafft es, dass man für zwei, drei Stunden einfach mal alles loslassen kann. Loslassen, lossingen, losheulen – die Menschen brauchen das auf dem Konzert offenbar genauso wie das Party machen, tanzen und lachen. Alles ist erlaubt. Es gibt auch seit etwa zehn Jahren bei meinen Konzerten immer eine Schweigeminute für den Frieden. Diese Minute wird eingeleitet von der PeaceBell. Das ist eine mehr als 800 Kilogramm schwere Glocke, die aus Kriegsschrott gegossen wurde. Unter anderem sind Panzerstücke aus Butscha und Granathülsen aus Kiew darin eingeschmolzen. Wenn die von der Decke heruntergelassen und angeschlagen wird, schweigen plötzlich tausende Menschen – das ist so bewegend, dass ich jedes Mal Gänsehaut bekomme. Danach wird es aber auch wieder rockig. Was ist denn die Philosophie hinter Ihren Konzerten? Bewusstsein zu schaffen für den Moment? In unserer Gesellschaft gibt es wenige Orte, wo Menschen verschiedenster Meinung auf einer friedlichen Basis zusammenkommen können. Beim Fußball ist immer das halbe Stadion enttäuscht, in der Politik ist man froh, gerade eine Mehrheit schaffen zu können, in der Religion spalten sich die Menschen auf. Oder die Wirtschaft, der Kapitalismus, Krieg – immer aufgeteilt in Gewinner und Verlierer. Aber in der Musik sind alle eins. Das, was ich erreichen möchte, ist ein positives Wir-Erlebnis, bei dem es keine Loser gibt, nur Gewinner. Dieses Schwarz-Weiß-Denken, Schuldzuweisungen, bei anderen nach Fehlern suchen, Zynismus – hey, in einer pluralen Gesellschaft geht es auch anders: Man kann sich auch miteinander an etwas erfreuen, das sich Musik nennt. "Die Zeit im Kloster war für mich ein Reset" Kann man sagen, Ihre Musik hat eine Mission? Vielleicht im Sinne der &bdquo;Blues Brothers“, die im gleichnamigen Film sagen &bdquo;Were on a Mission“ (lacht). Aber im Ernst, ich möchte niemandem ein Gefühl oder eine Meinung aufdrücken. Im Gegenteil; ich empfinde Unterschiede als eine Bereicherung. Klar haben manche meiner Songtexte eine Zweidimensionalität, in die mein Glaube, Spiritualität, und alles, was mir wertvoll ist, mit einfließt. Da spiegelt sich ein Teil meiner Identität wider. Aber mir ist wichtig, dass meine Musik auf Hörer mit ganz eigenen Identitäten trifft. Diese Freiheit schafft ja erst echte Begegnung. Zu meinem Freundeskreis gehören Menschen mit den verschiedensten Ansichten und mit vielen originellen Lifestyles. Ich höre allen gerne zu, weil ich der Meinung bin, dass jeder Mensch, der ein Herz hat, das Wahrheit sucht, mir etwas beibringen kann. Zwischen 2004 und 2010 haben Sie in einem französischen Kloster gelebt, wo Sie Ihren Glauben vertieft haben. Gab es einen Schlüsselmoment? Die Zeit im Kloster war für mich ein Reset. Man kann sich das vorstellen wie bei einem Computer, der zu viele Viren und Bugs hat. Den muss man einmal komplett ausschalten, neu starten und neu ordnen. Ich habe drei oder vier Jahre gebraucht, diesen großen Schritt zu gehen. Um zu testen, ob ich das wirklich ernst meine oder ob das nur eine kurze Spinnerei ist, hatte ich vorher einige kurze Aufenthalte in Klöstern. Viele Künstler gehen ja für ein halbes Jahr nach Indien und sind dann inspiriert. Für mich war es mehr als die Suche nach Inspiration. Es war ein wirkliches Interesse an den Fragen des Lebens, nach dem Sinn des Ganzen, wer ist Gott, woher kommen wir, wohin gehen wir nach dem Tod – alldem wollte ich auf den Grund gehen. Und ja, da gab es ein paar Schlüsselerlebnisse, die mich überzeugt haben, dass es mehr gibt als nur die sichtbare und wissenschaftlich messbare Wirklichkeit. Anderes Thema: Spielen Sie bei Ihren Konzerten eigentlich auch Lieder aus der alten Kelly-Zeit? Tatsächlich kommt auch der ein oder andere Song aus den 90ern auf die Setliste, nicht viele, aber doch ein paar. Je nachdem, was mich gerade anspricht. Das Konzert ist zweieinhalb bis drei Stunden lang, es gibt also auch Zeit für spontane Momente. Manchmal halten Leute ein Schild hoch, weil sie zum Beispiel etwas mit mir gemeinsam singen wollen. Ich hatte neulich bei einem Konzert zwei junge Mädchen auf der Bühne, mit denen ich zusammen &bdquo;Blurry Eyes“ gesungen habe. Das war total schön! Sind das Gänsehautmomente? Auf jeden Fall. Genauso wie die Schweigeminute und das Lied, das ich meiner verstorbenen Schwester gewidmet habe. Wenn ich das singe, bleibt mir manchmal fast die Stimme weg, weil es mich so bewegt. Ich habe lange überlegt, ob ich das Lied wirklich auf der Bühne singen sollte, und musste dann an Jacques Brel denken, der immer bei einem bestimmten Song geweint hat. Und warum sollte mir das nicht auch mal passieren dürfen? Es ist ja echt. Und ein authentisches Publikum hat auch einen authentischen Künstler verdient.

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