"Pop ist mehr als Musik"

Leipzig. Pop-Musik ist ein allgegenwärtiges Phänomen, doch kaum jemand hinterfragt genauer, wie sie funktioniert. Diedrich Diederichsen (56), Deutschlands Pop-Papst, tut das sehr gründlich in seinem für den Leipziger Sachbuch-Preis nominierten Opus magnum "Über Pop-Musik". Auf knapp 500 Seiten beschreibt er Pop als eine vielgestaltige Kunstform, bei der es um weit mehr als nur Musik geht. Thomas Klingebiel versuchte im Gespräch mit Diederichsen Autor eine Annäherung an dessen unkonventionelles Pop-Verständnis.Herr Diederichsen, manche Leser mögen enttäuscht sein, weil Ihr Buch mehr eine Theorie zur Pop-Musik ist. Einzelne Künstler kommen nur am Rand vor. Diedrich Diedrichsen: Ich glaube, das Buch verbirgt seinen theoretischen Charakter nicht. Viele Ansätze sind aus Ihren früheren Veröffentlichungen bekannt. Neu ist, dass Sie sie zu einem einheitlichen Text zusammenführen.Diederichsen: Neu ist vor allem die Idee, dass es bei Popmusik darum geht, dass die Erschütterung durch ein Recording vom Rezipienten mit Bildern, Texten und Alltagsleben in Verbindung gebracht wird. Bilder oder Kleidungsdetails oder eine Art zu gehen kommen da zusammen, also kulturelle Objekte ganz anderer Art als Geräusche. Die Rezipienten vollenden auf diese Weise das Popmusik-Objekt erst. Ist das nicht ein Standard der Rezeptionsästhetik: Der Leser oder Hörer vollendet das Werk? Diederichsen: Nein, es ist nicht einfach nur Rezeptionsästhetik. Das würde, da haben Sie recht, nicht nur auf Popmusik, sondern auch auf alle möglichen anderen Kunstformen zutreffen. Popmusik-spezifisch ist, dass Objekte vollkommen unterschiedlicher Zeichengattungen zusammengefügt werden. Diese Objekte werden auch nicht von den gleichen Medien ausgegeben: Das Bild gibts in der Zeitschrift, den Ton hört man auf einem Tonträger oder im Radio und die Texte muss man sich mühsam erschließen oder versteht sie gar nicht oder bildet sie selbst. Der Rezipient rezipiert nicht nur, sondern er muss überhaupt erstmal selbst konstituieren, was eigentlich das Werk ist. Es geht bei Pop also gar nicht so sehr um die Musik?Diederichsen: Das Popmusik-Objekt ist nicht die Musik. Die Musik ist eigentlich nur eine Einbettung oder eine Dämpfung des eigentlich viel wichtigeren Aspekts, dass die Phonographie, das Recording, in den Alltag eindringt. Dass ist etwas, das spätestens in den 1950er Jahren in irgendeiner Weise kulturell prozessiert werden musste. Das hat damals auch die Neue Musik erschüttert. Sie hat verschiedene Vorschläge gemacht, unter anderem den, die Klänge elektronisch zu generieren und so die Kontrolle zu behalten. John Cage hat den gegenteiligen Vorschlag gemacht, nämlich die Alltagsgeräusche als solche als die zentrale Sensation zu nehmen. Das ist im Grunde dasselbe, was Popmusik macht, bloß, dass sie die Alltagsgeräusche oder die Geräusche, die eine Person verursacht, einbettet in konventionelle Musik und auf diese Weise dämpft und abfedert. Die Musik hat vor allem Abfederungscharakter. Elvis Gesang auf Schallplatte ist aus Ihrer Sicht ein von einer Person erzeugtes Alltagsgeräusch, das von konventioneller Musik abgefedert wird? Diederichsen: Nein, Elvis Stimme ist kein Alltagsgeräusch, aber die Hupen in "Summer in the City". Elvis Stimme könnte auch konventionelle Musik singen, beziehungsweise tut das auch, aber Pop-Musik-spezifisch ist, dass wir sie in Verbindung mit sensationellen und auch sexualisierten Bildern seines Körpers kennenlernen und so auch dann, wenn wir ihn nicht sehen, seine stimmlichen Manierismen mit seinem Hüftschwung in Verbindung bringen. Dafür muss aber unser Hören nach der Verursachung forschen und darf sich nicht, wie beim konventionellen Hören, auf Tonfolgen konzentrieren. Fallen bei Ihnen die Stars und Sternchen, die gegenwärtig die Charts bevölkern, mit Absicht durchs Raster? Diederichsen: Nein, man muss bloß nicht für jeden einzelnen Song oder für jedes einzelne Genre noch mal erneut festlegen, was sozusagen generell gilt. Was für Elvis Presley gilt, gilt im Prinzip für Miley Cyrus genauso. Gleichzeitig mit der Geburt der Pop-Musik in den 1950er Jahren erklären Sie in Ihrem Buch aber auch ihr Ende. Diederichsen: Nein, das lasse ich sozusagen offen. Ich fühle mich dafür nicht zuständig, das zu bestimmen oder zu benennen. Sie sehen aber Symptome, die auf ein Ende der Popmusik hin- deuten. Diederichsen: Das für mich zentrale Symptom, das die Sache schwierig macht oder wodurch sie sich verändern wird, ist, dass durch den digitalen Zugang es nicht mehr nötig ist, sich in der Welt zu bewegen, um die Dinge zusammenzufügen. Es gibt so viel Nähe der einzelnen verschiedenen Ausgabekanäle, aus denen Popmusik zusammengesetzt ist. Es ist heute nicht mehr zwingend, dass ich in die Welt gehe, dort den einen Eindruck einsammle, dort jemanden sehe, der ein Kleidungsstück trägt, das mit einem anderen Star zusammenhängt, hier wiederum mich im Spiegel sehe und eine Frisur an mir entdecke, die wieder zu jemand anders gehört, und dazu einen ganz bestimmten Sound im Kopf habe. Dieses Zusammenfügen in der ganzen Welt, im öffentlichen Raum, durch das Medium Fan, den Rezipienten, das schnurrt heute unter Internet-Bedingungen zusammen. Da ist sozusagen ein und dasselbe Ausgabegerät.Ist Ihre Pop-Theorie ein Vorstoß, Popmusik als den etablierten Kunstformen gleichrangig zu betrachten? Diederichsen: Wertungen sind mir nicht so wahnsinnig wichtig. Mir ist wichtig, dass Pop-Musik ob als Kunst oder Kulturindustrie etwas grundsätzlich anderes ist als einfach nur populäre Musik wie Schlager oder Folklore. Ob man das nun gut oder schlecht findet, ist eine zweite Diskussion. Aber die erste ist: Es ist nicht dasselbe. Mir geht es auch darum zu sagen, dass die Musikwissenschaften nicht zuständig für Popmusik sind. Musikwissenschaften verfehlen Popmusik. Man muss sich den Besonderheiten dieses kulturellen Formats genauso stellen wie sich irgendwann mal die Filmwissenschaften konstituieren und ihren Gegenstand den Theaterwissenschaften wegnehmen mussten, die es bis dahin belegt hatten.

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