Emotionaler Brief an depressiven Vater: "Mein Papa, der war nicht mehr da"

Lieber Papa, ich dachte immer, in unserer Familie gibt es das nicht. Bei uns war doch immer alles gut, oder nicht? Deine Depressionen kamen für mich ganz plötzlich, sie haben mir den Boden unter den Füßen weggerissen. Es war Sommer und ich war 17, als du von einem auf den anderen Tag kein Wort mehr gesagt hast, nicht mehr aufstehen wolltest. Du kamst in eine Klinik. Bei jedem Besuch habe ich dich ein Stückchen weniger wiedererkannt. Aber du bist doch mein Papa. Bald sind doch meine Deutschen Meisterschaften, du warst doch immer so stolz, wieso ist dir das denn alles egal? Dann kamen die Diagnosen: Burnout, Angststörungen, das volle Programm. Bevor du krank geworden bist, war mein Leben ganz laut. Ich war zum Beispiel das erste Mal verliebt. Und so habe ich gar nicht gemerkt, wie du immer leiser wurdest. Damals habe ich dich gefragt: An meinem 18. Geburtstag bist du doch wieder Zuhause, oder Papa? Erwachsen geworden bin ich nicht erst am sechsten November, sondern ganz schlagartig und ohne Vorwarnung, als du krank wurdest. Du warst auch nicht wieder Zuhause Mama habe ich bis dahin nie weinen gesehen, in unserer Familie habt immer ihr mich getröstet - nicht umgekehrt. Das war ab dem Zeitpunkt deiner Erkrankung anders. Irgendwann warst du nicht mehr in der Klinik, aber du warst auch nicht wieder Zuhause. Mein Papa, der mit mir im Auto auf dem Weg zum Ahorn-Sportpark Gespräche über Gott und die Welt geführt hat, laut im Radio mitgesungen hat und nie länger als fünf Minuten sauer auf mich sein konnte, der war nicht mehr da. Es gab Wochen, da hast du gar nicht mehr geduscht, du hattest keine Kraft zum Zähneputzen. Ich habe keine Freunde mehr zu mir eingeladen, von deiner Krankheit sollte keiner wissen. In der Schule habe ich meine Traurigkeit versteckt. Auf keinen Fall wollte ich eins sein: Das Mädchen mit dem Vater, der Depressionen hat. Du bist immer dünner geworden, irgendwann konntest du dich nicht mal zum Essen aufraffen. Dann bist du auf den Dachboden gezogen. Ich kann bis heute nicht gut da hochgehen. Ich war so oft sauer auf dich und habe dich so oft ungerecht behandelt. Ich wusste doch, du bist krank. Du kannst doch nichts dafür. Aber wer hat mir dann meinen Papa weggenommen? Am liebsten hätte ich dich durchgerüttelt, so lange bis der letzte Rest dieser Depression einfach aus dir rausfällt. Das erste Mal zur Psychologin Gut ein Jahr nach deiner Diagnose ging ich das erste Mal zur Psychologin. Davor hatte ich immer wieder Panikattacken bekommen, ich hatte solche Angst vor dem Tod. Aber eine Psychologin? Dann war ich ja auch noch krank. Das dachte ich damals. Lesen Sie alle Artikel des Themenschwerpunktes "Wir haben Depressionen" hier Dabei war ja ganz klar, dass es mir nicht gut ging. So ging das über zwei Jahre. Zwei Jahre hört sich gar nicht so viel an, denke ich manchmal. Ich glaube aber auch, viel mehr hätten Mama und ich nicht ertragen. Du willst dein altes Leben zurück Aber egal, wie krank du warst, uns, deine Familie, hast du nie vergessen. Bei meiner Abiturzeugnisvergabe warst du für mich der beste Papa, der du in dieser Zeit sein konntest. An dem Abend haben wir noch kurz gesprochen, daran werde ich mich für immer erinnern können. Du meintest, du willst das wieder zurückhaben, dein altes Leben mit uns. Heute, gut dreieinhalb Jahre nach deiner Diagnose, kannst du sogar wieder ein bisschen arbeiten. Es hat lange gedauert, aber irgendwann ging es dir wieder besser. Jeden Tag bin ich unfassbar dankbar, dass es endlich bergauf geht. Vor ein paar Jahren hast du nicht einmal eingesehen, dass du krank bist. Heute machst du bei einer großen Kampagne mit, bei der Menschen mit Depressionen Gesicht zeigen. Papa, ich bin so verdammt stolz auf dich. Auch wenn nicht mehr alles so ist, wie vor deiner Krankheit. Ich habe meinen Papa wieder, jetzt eben den Papa mit Depressionen. Heute würde ich das am liebsten laut durch die Paderborner Innenstadt schreien. Wenn ich eins gelernt habe, dann dass bei fast niemandem Zuhause alles gut ist. Und dass die Angehörigen der Betroffenen auch durch die Hölle gehen, denn das wird oft vergessen. Noch nie war ich glücklicher als heute, dass du mein Papa bist. Und Mama, dass du meine Mutter bist. Und ihr beide zusammen, meine Familie, völlig egal ob die perfekt ist. Hauptsache wir sind zusammen. In Liebe, Malin

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