Interview Armut in Paderborn: „Preissprünge führen zu extremen psychischen Situationen“

Als armutsgefährdet gilt, wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens zur Verfügung hat, das sind in Deutschland zurzeit etwas mehr als 1.000 Euro. Machen wir das mal konkret: Wie äußert sich Armut im Alltag für die Betroffenen? NICOLE WIGGERS: Dass man immer, tagtäglich vor der Herausforderung steht, wie man seinen Alltag gestaltet: Wie bezahle ich meine Miete? Wie bekomme ich meine Wohnung warm? Habe ich genug zu essen? Kann ich mich vernünftig kleiden? Fragen nach der Freizeitgestaltung, also ist auch mal ein Kino- oder Restaurantbesuch möglich, die stellen sich diese Menschen schon gar nicht mehr, weil dafür gar kein Geld vorhanden ist. JOACHIM VEENHOF: Armut hat viele Gesichter. Früher wurde mit ganz klaren Definitionen gearbeitet, zum Beispiel galt als arm, wer Anspruch auf Sozialhilfe hatte. Mittlerweile nehmen wir verschiedene Formen wahr: soziale Armut, Einsamkeit, aber auch dass jemand absolut überfordert ist mit Alltagsdingen. Menschen, die gesellschaftlich abgehängt sind, obwohl sie finanziell Spielraum haben. Wer ist betroffen oder hat ein besonders hohes Risiko, in Armut abzurutschen? VEENHOF: Oft sind es Alleinerziehende oder Rentner, die während des Erwerbslebens kein großes Einkommen hatten. Aber auch immer mehr jüngere Menschen, die keinen guten Eintritt ins Erwachsenen- und Berufsleben gefunden haben, sind gefährdet. WIGGERS: Oder Menschen, die aufgrund ganz unterschiedlicher Erkrankungen relativ früh nicht mehr arbeitsfähig sind, und dann eine entsprechend geringe Erwerbsminderungsrente bekommen. VEENHOF: Und: Es gibt keine Garantie – wir haben Menschen, die sich in allen gesellschaftlichen Schichten bewegen, die in Armut abgerutscht sind. Wir reden nicht von einer kleinen Schicht am Rande, sondern mittlerweile von einer relativ breiten Masse – und die wächst. Es gibt also mehr arme Menschen in Paderborn als in den vergangenen Jahren? VEENHOF: Ja, das ist spürbar. Corona war das berühmte Brennglas. Dadurch, dass bestimmte Dienste in der Zeit nicht angeboten werden konnten, sind Menschen, die sonst nicht so schnell in Armut hineingerutscht wären, plötzlich massiv betroffen gewesen. Der Bedarf an Beratung ist schleichend, aber offensichtlich größer geworden. Und aktuell hat sich die Lage ja wahrscheinlich noch einmal verschärft: Die Inflation macht sich für jeden an der Supermarktkasse bemerkbar, die Preise für Strom und Gas steigen deutlich. Was sind die akuten Probleme? WIGGERS: Lebensmittelkosten steigen enorm, das merken Menschen mit wenig Geld gerade massiv. Auch Schulmaterialien sind deutlich teurer geworden, was viele Familien vor Schwierigkeiten stellt. VEENHOF: Die Tafel berichtet von vielen Anfragen. Das Kontingent an Lebensmittelgutscheinen, das die Caritas ausgibt, war in diesem Jahr schon im Sommer aufgebraucht. Beim SKM bereiten wir uns darauf vor, Menschen in diesem Winter mit Lebensmitteln zu versorgen. Was macht das mit Menschen, die sowieso schon oft Ende des Monats kaum mehr Geld fürs Essen übrig haben? WIGGERS: Die Preissteigerungen führen zu ganz extremen psychischen Situationen, weil sich Menschen zum Beispiel nicht mehr trauen, die Heizung anzumachen oder einen Tee zu kochen. Die Lebensqualität sinkt für viele. Das wird auch beim Thema Weihnachtsbeleuchtung deutlich: Wenn ich mir vorstelle, dass wir alle von Dezember bis Februar im Dunkeln sitzen, dann hat das auch massive psychische Auswirkungen auf große Bevölkerungsgruppen. VEENHOF: Wir haben so viele Gespräche im Moment um Sorgen und Ängste, was die Zukunft angeht: Wie fällt die Stromkostenabrechnung aus? Wie kann das alles noch bezahlt werden? Kann ich den Kindern noch Weihnachtsgeschenke kaufen? Das sind wirklich Formen von Armut, da hätte ich nicht gedacht, dass wir das in so einem reichen Land wie Deutschland erleben. Das sind wohl Situationen, die sich viele von uns nicht vorstellen können. VEENHOF: Als Mensch der Mittelschicht ist es nicht so schwierig, Energie zu sparen. Aber wo wohnen unsere Klienten denn? In alten, schlecht isolierten Häusern. Die sitzen im Winter sowieso schon mit dickem Pullover zuhause. Da baut auch niemand eine Wärmepumpe oder PV-Anlage ein. Wir thematisieren natürlich Dinge wie das Kühlschrank-Runterdrehen, Standby-Geräte-Abschalten, Stoßlüften und so weiter, aber viel Spielraum ist da einfach nicht. Wenn dann auf einmal Abrechnungen ins Haus flattern, die das Monatsbudget übersteigen, verursacht das extreme Ängste. WIGGERS: Das betrifft jetzt auch nicht mehr nur unsere typischen Klienten, sondern Menschen und Familien, die keinen großen Verdienst haben. Die bekommen dann keine öffentlichen Gelder und müssen auch jeden Cent zusammenkratzen. Mit dem runden Tisch für Armut gibt es in Paderborn ja ein Netzwerk mit vielen Unterstützungsangeboten, um diesen Menschen zu helfen. VEENHOF: Wir versuchen, die Hilfen zu koordinieren – auch unter den Trägern. Nicht aus einem Konkurrenzdenken heraus, sondern im Interesse unserer Kunden. Und wir sind nicht nur untereinander, sondern auch mit den vor Ort Verantwortlichen von Stadt und Kreis im Gespräch. Trotzdem sehen wir die Herausforderungen, die auf uns zukommen. Die Belastung ist massiv. Die Spenden sind rückläufig, gleichzeitig steigt der Bedarf. Die Sozialarbeit ist am Limit. An die Adresse der politisch Verantwortlichen: Wo wäre es jetzt besonders drängend, zu handeln? WIGGERS: Wir brauchen mehr bezahlbaren Wohnraum. Das ist ein ganz großes Thema, das wirklich viele betrifft. VEENHOF: Wenn wir viel Kraft und Zeit investieren müssen, um Wohnraum zu gewinnen und zu halten, dann müssen die anderen Dinge nach hinten geschoben werden. Das ist ein Thema, das nur mit der Politik zusammen gestemmt werden kann – durch einen Dialog auf Augenhöhe. Diesen Dialog auf Augenhöhe realisiert der Runde Tisch Armut. Welche Rolle spielen dabei die Finanzen? VEENHOF: Natürlich sind Wege aus der Armut immer mit Geld verbunden. Da ist die gesamtgesellschaftliche Solidarität auch ein ganz großes Thema und eine Herausforderung, um Armut etwas entgegenzusetzen. In einem Land wie Deutschland muss es soziale Gerechtigkeit geben, die muss von allen getragen werden. Die Bundesregierung nimmt gerade Milliarden zur Entlastung der Bürger in die Hand. Ist das genug, um Armut zu verhindern? VEENHOF: Es ist sehr wertvoll, dass politisch gesagt wird: Wir versuchen Extreme, aufzufangen. Ich finde, dass an einigen Stellen die Lösungen zu sehr an der Mittelschicht orientiert sind und nicht an den Menschen, die wirklich von Armut betroffen sind. Die große Not wird mit den Nebenkostenabrechnungen im nächsten Jahr kommen. 300 Euro Energie-Geld, die heute ausgezahlt werden, sind im nächsten Jahr nicht mehr da. Auf die akute Not hat die Politik bisher zu wenig Antworten. Wir brauchen eine Kontinuität, eine Strategie für von Armut betroffene Menschen. WIGGERS: Die Sozialämter bräuchten mehr Möglichkeiten, im einzelnen Härtefall eigene Entscheidungen zu treffen. Wir rechnen wirklich damit, dass, wenn die Nachzahlungen kommen, wir ein großes Problem haben werden. Alle, die bisher so gerade über die Runden kamen – Rentner, Alleinerziehende, Geringverdiener – werden das dann spüren. Lesen Sie auch aus der Serie "Armut in Paderborn": Arm mit Mini-Job: "Die Verteilungskämpfe gehen schon los" Arm im Alter: Seniorin verbringt "schlaflose Nächte wegen der Gasrechnung" Der Armut entfliehen: Teilzeitausbildung als letzte Chance für Alleinerziehende

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