Paderborn Klassikerinszenierung als Bühnenexperiment mit Distanz zum Publikum

Paderborn. Am Samstag ging das Drama "Woyzeck" (Büchner, 1836/37) über die Bühne des Theaters Paderborn. Ein Schulstoff über den armen, gebeutelten Mensch, der in Kriegszeiten zum Spielball wird und dessen Realitätswahrnehmung zunehmend verrückt. Woyzeck, erstmals 1913 uraufgeführt, ist seit jeher Experimentierfeld - psychologisches, gesellschaftskritisches, humanistisches - und so fokussiert sich die Inszenierung von Sebastian Martin auf einen losen Bilderreigen, der vor allem die Beziehungslosigkeit und Isolation der Personen herausstellt. Was ist der Mensch? Und wo das Bühnengeschehen heute nicht mehr reicht, greift der Film ins Geschehen ein. Versuchsstation Franz Woyzeck, eine Kreatur unter Beobachtung, ein Selbstexperiment, ein Selfie vom Mord an der Geliebten, vom Selbstmord... Zu Beginn sitzt Woyzeck auf der Bühnenkante, löffelt seine Erbsen, brabbelt vor sich hin, hört bereits Stimmen. In einem Schaukastengestell (Bühne: Tobias Kreft) spiegelt sich verzerrt das Publikum zur Selbstbetrachtung. Wenig später tauchen in dem nun illuminierten Schaukasten Soldaten auf - martialisch, kriegsfilm-heroisch- ebenso wie der Effekt, sie in Luft aufzulösen. Das sind starke Momente, in denen der Mensch Woyzeck (Alexander Wilß) konfrontiert ist mit diesem Menschen-Bild wie aus einem US-Kriegsstreifen.Befremdlich wirkende Gesangseinlagen Doch gleichzeitig löst sich dem letzten Soldaten zu Füßen eine Bettlerin (Kirsten Potthoff) heraus, die mal Marketenderin, mal Schicksalslenkerin, einen riesigen Müllrock hinter sich her zieht. Das durchaus spannend begonnene Experiment Mensch wird aufgegeben zu Gunsten märchenhafter Überzeichnungen.Darunter fallen unter anderem die Gesangseinlagen, die sich befremdlich wie im Musical ausmachen; Figuren, deren Maskeraden opernhaft, fast comicartig wirken - und auch die Headsets in ständiger Stimmverstärkung nerven als ständiges Mittel, ohne die der Mensch scheinbar nicht mehr auskommt. Das letzte Glied in der kreatürlichen Hierarchie Aus der Figur des Heroen entpuppt sich nun der Tambourmajor (Carsten Faseler) in einer Katastrophenschutzbekleidung, mal mit Windeln. Ist auch er Opfer des Erbsenversuchs? Da ist Marie, die den Major verführt, ihn wie eine Puppe vorführt. Und da ist der Major, der nun plötzlich mit billigem Zaubertrick, ein Lichtlein am Finger, über den Körper der Marie fährt. Der Major zaubert ihr so die ersehnten Ohrringe herbei. Woyzecks Wahn nimmt seinen Lauf.Der Hauptmann in Unterhosen (Benjamin Mährlein), der sein Gewehr zunächst auf sich selbst richtet, zielt wenig später auf seinen Diener Woyzeck, dem letzten Glied in der kreatürlichen Hierarchie. Er gibt des Woyzecks Wolf, zerrt ihn plakativ mit Tiermaske über die Bühne, während der Doktor (David Lukowczyk) freudvoll den Woyzeck filmt beim Experiment "Erbsen" und wie sich dieser durch die gesundheitlichen Schäden wie Harndrang und Halluzinationen sich der Lächerlichkeit preis gibt. Alles in Einzelbildern arrangiert, zumeist künstlich.Keine Nähe, keine Intimität Claudia Sutter als Marie gelingen differenzierte menschliche Züge, sie verkörpert ihr soziales Milieu gepaart mit Lust und Leid. Die Beziehung zwischen Woyzeck und ihr bleibt aber immer hypothetisch, so fremd und fern sind sich die beiden. Das Schminken der Marie vor laufender Kamera, Franz beobachtet sie dabei - betont die Distanz der beiden, gelungen eingefangen. Keine Nähe nirgends. Keine Intimität.In einer anderen Szene - davor oder danach? egal! - stirbt das Kind, von Marie der Sonne schutzlos ausgesetzt, in den Armen der Magierin. Diesmal wieder ein märchenhaftes Kalkül. Woyzeck, getrieben von Stimmen und aufgeheizter Eifersucht, setzt Marie ein Messer an die Kehle. Kamera läuft. Das Publikum wird zum Voyeur, Franz zeigt keine Regung - und da bricht der Theaterakt ab. Filmriss. Marie steigt aus ... wenn auch nur einen gespielten Moment lang.Ein bildhaft starkes Ende Ein Aufwachen. Und während Arzt, Hauptmann, Woyzecks Freund Andres, der Major, die Schicksalslenkerin als Häufchen "Mensch" zusammengedrängt dem Plot folgen, sitzt ihnen Woyzeck blutüberströmt bereits filmisch im Nacken. Zumindest ein bildhaft starkes Ende für ein über lange Strecke beziehungsloses Schauspiel. Jeder spielt für sich. Jeder spricht für sich. Da entsteht kein Stück, keine Steigerung, keine Berührung. Schauspielerisch kommen diese Menschen sich und dem Publikum nicht nahe und die filmischen Ansätze und Überhöhungen vertiefen nicht, sondern schaffen nur eine neue glatte Spiegelfläche. Es tut gut, den Stoff Woyzeck angesichts der Dezimierung auf eine Stunde, vorher gelesen zu haben.Weitere Aufführungen sind am 26. Februar sowie am 5., 10., 12., 19., und 26. März um jeweils 19.30 Uhr. Karten sind an der Theaterkasse unter Tel. (0 52 51) 2 88 11 00 erhältlich.

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