Prozess gegen Jugendgang: Wer sind die jungen Intensivtäter, die für Chaos in Minden sorgten?

Minden. Draußen, wenige Schritte hinter der Schleuse des Gerichtszentrums, wirft eine kleine Gruppe junger Männer einen von ihnen jubelnd in die Luft. In ihrer Mitte: Khalid (alle Namen geändert), 1,80 Meter groß, drahtig gebaut, lockiger, schwarzer Schopf. Er grinst breit, eine Zigarette lässig zwischen den Lippen, während seine Freunde ihn auffangen und wieder hochstoßen. Daneben stehen an diesem regnerischen Donnerstagnachmittag die Eltern und schauen erleichtert zu. Khalid saß sechs Monate in der Untersuchungshaft und hat auf diesen Moment in Freiheit sehnsüchtig gewartet. Eben noch steht er als einer von vier Angeklagten wegen einer Vielzahl von Taten vor Gericht, nun verlässt er den Saal 223 als freier Mann. Das Jugendschöffengericht entschied wenige Minuten zuvor nach einer fünfstündigen Verhandlung am zweiten Prozesstag, dass seine drei Komplizen zurück ins Gefängnis müssen. Der 17-jährige Khalid ist der Einzige von ihnen, dessen Welt sich abseits der hohen Mauern der JVA vorzeitig öffnet. Lesen Sie dazu auch: Die Polizei hat die Jugendgang zwischenzeitlich mit 130 Delikten in Verbindung gebracht. Ihre Mitglieder fuhren in gestohlenen Autos, stiegen in fremde, geparkte Wagen in Minden und Porta, entwendeten laut Anklage dort Gegenstände, klauten in Geschäften, erpressten und raubten. &bdquo;Sie haben von Ostwestfalen-Lippe bis nach Niedersachsen für Chaos gesorgt und massiv den öffentlichen Frieden gestört“, sagt Staatsanwalt Daniel Becker in der Verhandlung. Die Vorsitzende Richterin Katrin Bandini ergänzt: &bdquo;Ihr alle habt viel Unruhe nach Minden gebracht, andere mitgezogen, die Polizei massiv beschäftigt und weitaus mehr Taten begangen als angeklagt wurden.“ Omar flüchtete vom Sudan über Ägypten Der Prozess gegen die vier jungen, alle geständigen Intensivtäter offenbart auch Einblicke in ihre Biografien. Alle haben internationale Familiengeschichten, drei flüchteten mit ihren Familien aus ihren Herkunftsländern vor Kriegen, Konflikten und kamen - trotz der Perspektive auf eine sichere Zukunft - auf die schiefe Bahn. Sie alle sind Intensivstraftäter und ignorierten bis jetzt alle Warnungen der Polizei und Justiz. Geburtsort ist zerstört Da wäre Omar (17), der im Sudan geboren worden ist und zunächst mit seiner Familie in der Hauptstadt Khartum lebte, skizziert die Jugendgerichtshelferin im Prozess seinen Werdegang. Die Metropole ist inzwischen im 2023 begonnenen Bürgerkrieg weitgehend zerstört worden. Beobachter bezeichnen die Situation im Sudan als katastrophal und größte humanitäre Krise der Welt. Auch zuvor gab es im nordafrikanischen Land zahlreiche bewaffnete Konflikte. Deswegen flüchtete die Familie von Omar bereits 2014 nach Ägypten. Laut der Jugendgerichtshelferin lebte sie mehrere Jahre in Kairo und erlebte dort einen dramatischen Brand in der Unterkunft, durch den all ihre Unterlagen zerstört wurden. Im Zuge des UN-Programms &bdquo;Nest“, das besonders schutzbedürftigen Flüchtlingen Aufnahmen gewährt, durfte die dafür auserwählte Familie Ende 2021 nach Deutschland einreisen. Sie kam zunächst im Grenzdurchgangslager Friedland und dann in Minden unter, wo Omar die Realschule ohne Abschluss verließ. Auch im Gefängnis auffällig Anschließend besuchte er an einem Berufskolleg die Praktikumsklasse, die Schüler auf eine Ausbildung vorbereiten soll. In einem der größten Unternehmen in Minden flog er dann raus, weil er während des Praktikums mit einer E-Zigarette auf dem Klo erwischt wurde, schildert die Jugendgerichtshelferin. Anfang 2025 verurteilte ihn das Amtsgericht zum ersten Mal wegen Sachbeschädigung zu Sozialstunden. Einige Wochen später kam er in U-Haft, wo er ebenfalls auffiel, Disziplinarstrafen erhielt und Konflikte mit Mithäftlingen austrug. Kein Verständnis für diese Karriere hat die Vorsitzende Richterin Katrin Bandini. &bdquo;Du kommst aus einem Land mit einer prekären Situation, wo vergewaltigt und verstümmelt wird, hast hier Geld, Sicherheit, Freiheit, aber du setzt alles aufs Spiel und bist eine Schande für deine Eltern“, richtet sie sich mit deutlichen Worten an den Angeklagten. Lesen sie auch: Projekt gegen Jugendkriminalität in Minden: Gruppen haben sich aufgelöst Drogen und dumme Gedanken Omar entschuldigt sich bei seiner Mutter und dem Vater und begründet seine kriminelle Karriere mit dem Drogen- und Alkoholkonsum. &bdquo;Dadurch bin ich auf dumme Gedanken gekommen.“ Im Gefängnis habe er viel Zeit gehabt, um nachzudenken und auch psychologische Angebote in Anspruch genommen. &bdquo;Ich kann mir das nicht verzeihen und werde mich ändern.“ Das Jugendschöffengericht verurteilt ihn unter anderem wegen Raubs am Bahnhof Wunstorf und acht Diebstählen, darunter von Parfüm in der Mindener Innenstadt, zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und drei Monaten. Amir hörte die Warnschüsse der Justiz nicht Da wäre Amir (17), dessen jesidisch-kurdische Familie von Syrien nach Deutschland flüchtete, als er drei Jahre alt war. Nach einigen Umzügen innerhalb der Bundesrepublik kam die kinderreiche Familie 2013 nach Minden, blickt die Jugendgerichtshelferin zurück. Auf der Gesamtschule hatte der inzwischen deutsche Staatsbürger viele Fehlzeiten, in der Praktikumsklasse wiederholte sich das. Richterin Bandini kennt Amir, der einen Hauptschulabschluss hat, bereits von anderen Verhandlungen: &bdquo;Er ist nett, höflich, gut erzogen, baut aber immer wieder Mist und beteuert immer, damit aufzuhören.“ Sein Verteidiger Peter Jahn gibt zu: &bdquo;Diesmal hat er es überrissen.“ Amir beging zwar keine vollendeten Verbrechenstatbestände, klaute aber immer wieder Autos, fuhr mit diesen ohne Führerschein und flüchtete in einem gestohlenen BMW vor Zivilpolizisten, die ihn am Rewe an der Viktoriastraße stellten. Laut Anklage soll er im Tulpenweg ein nicht abgeschlossenes Auto mit Designerwaren im Wert von 20.000 Euro ausgeräumt haben. Die Jugendgerichtshelferin berichtet davon, dass er sich zu Hause nicht sehen ließ und tagelang wegblieb. &bdquo;Dir war alles egal. Hauptsache, du hattest ein paar Drogen und Spaß“, sagt Richterin Bandini und resümiert: Die Polizei habe Sektkorken knallen lassen, nachdem Amir in Haft gegangen sei. Staatsanwalt Daniel Becker erwähnt, dass man den Haftbefehl anfangs außer Vollzug gesetzt habe. Direkt danach sei Amir, dessen älterer Bruder ebenfalls in der JVA Herford einsitzt, wieder im gestohlenen Auto unterwegs gewesen. &bdquo;Was soll man da noch machen? Uns bleibt nichts übrig, als ihn wieder wegzusperren.“ Das Jugendschöffengericht verurteilt ihn unter anderem wegen Diebstahls in neun Fällen, Hehlerei, vorsätzlichen Fahrens ohne Führerschein, Betrugs, Hausfriedensbruchs und Urkundenfälschung zu zwei Jahren Haft. Sherko konsumierte und zockte Da wäre Sherko (19), der in Minden geboren wurde und dessen jesidisch-kurdische Familie aus dem Irak stammt. Er besuchte eine Förder- und Hauptschule, so die Jugendgerichtshelferin. Zwischenzeitlich zieht die Familie nach Dortmund und dann wieder zurück nach Minden, um offenbar die Söhne vor dem kriminellen Milieu im Ruhrgebiet zu schützen. Daraus wird nichts. Sherko driftet auch an der Weser ab, nachdem er zwischenzeitlich für einen Logistikdienstleister arbeitet. &bdquo;Der Kokainkonsum und die Spielsucht haben dafür gesorgt, dass ich in kriminelle Machenschaften verwickelt wurde“, sagt Sherko über sich. In der Haftzeit sei er viel ruhiger geworden, nicht mehr so aggressiv und habe an sich gearbeitet. Das Jugendschöffengericht verurteilt ihn unter anderem wegen Raubes zu drei Jahren und elf Monaten Haft. Die drei Richter beziehen auch die vorherigen Haftstrafen des Landgerichts Bielefelds und Amtsgerichts Bückeburg ein. Lesen Sie auch: Rechtsextreme Jugendclique fällt in Minden auf Khalid habe die Zeit in Haft gereicht Da wäre der anfangs erwähnte Khalid (17), der mit der Familie 2019 von Syrien über Porta nach Minden kam. Nach der Flucht hätten sich die Eltern getrennt, berichtet der Jugendgerichtshelfer. Die Mutter, die während der Verhandlung einen Übersetzer benötigt, sei alleinerziehend gewesen. Das Jugendamt besuchte die Familie unter anderem wegen Krätzefällen sowie eines nicht bestätigten Hinweises auf eine Gefährdung des Kindeswohls. Khalid war auf der Förderschule und - wie nahezu alle Angeklagten - in der Praktikumsklasse eines Berufskollegs. 250 Euro an die Zeugen Für ihn steht beim Prozess besonders viel auf dem Spiel. So wird er beschuldigt, mit einem Messer hantiert zu haben, als die Gruppe andere jungen Menschen am Bahnhof Wunstorf ausgeraubt hat. Doch die Zeugen belasten ihn nicht. Noch im Gerichtssaal zahlt der Verteidiger Ali Senol für den Täter-Opfer-Ausgleich jeweils 250 Euro an vier Zeugen. Auch die anderen Angeklagten entschuldigen sich bei ihnen und zeigen Reue. Khalid sagt, dass er im Gefängnis viel nachgedacht habe. &bdquo;Ich bitte um eine Chance, Sie werden mich nie wieder im Gerichtssaal sehen“, verspricht er. Er will wieder eine Schule besuchen und eine Ausbildung beginnen. &bdquo;Ich möchte mein Geld nicht mehr auf schmutzige Art und Weise verdienen und werde kein Cannabis mehr konsumieren.“ Die sechs Monate in U-Haft hätten ihm gereicht, beteuert er. Der Jugendgerichtshelfer meint, dass man ihn entlassen könne. &bdquo;Es wäre ein Versuch wert, der darf aber nicht scheitern.“ Der Staatsanwalt ergänzt: &bdquo;Das wäre eine riesige Chance, aber wenn ich Ihren Namen nur irgendwo höre, fahren Sie wieder ein - auch nachts.“ Wieder ruhiger auf der Polizeiwache Das Jugendschöffengericht verurteilt ihn unter anderem wegen schweren Raubs, Hehlerei, und Diebstahls zu einem Jahr und elf Monaten Haft auf Bewährung und erteilt ihm Weisungen. So muss er sich Anfang Dezember beim Berufskolleg vorstellen und Sozialstunden leisten. Bei Verstößen droht ihm ein Jugendarrest von vier Wochen, außerdem handelt es sich um eine sechsmonatige Vorbewährung. Am Ende dieses langen Prozesstages steht für die vier Jugendlichen eine Zäsur. Am Rande ist zu hören, dass sich die Lage ohne ihren Trubel, auf der Polizeiwache entspannt haben soll. Drei verschwinden wieder hinter Mauern und Gittern, einer tritt hinaus in den Regen und in die Freiheit. Für Khalid beginnt die Zukunft, als er über den Köpfen seiner Freunde schwebt. 📱News direkt aufs Smartphone: Kostenloser WhatsApp-Kanal der NW Kreis Minden-Lübbecke

Meistgelesen