Ukraine-Krieg Ein Jahr im Pfarrhaus in Bad Oeynhausen: So geht es den Ukraine-Flüchtlingen

Bad Oeynhausen. Als die Sirenen am Morgen des 24. Februar 2022 heulten, die ersten Bomben auf Charkiw, die zweitgrößte Stadt der Ukraine, fielen, saß Tatjana senkrecht im Bett. "Ich wusste gar nicht, was los ist", erinnert sich die 60-Jährige. Doch dann war schnell klar, dass der russische Präsident Ernst machte und seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine startete. Millionen Ukrainer flüchteten - mit ihnen Tatjana, Enkel Michael (4) und Schwiegertochter Maria (24). Fast ein Jahr leben sie inzwischen im Pfarrhaus Bergkirchen. Dort hat die Kirchengemeinde geflüchtete Frauen und Kinder untergebracht. Auch Mariana (26) mit ihren Kindern Arsen (2) und Oleksii (5) sowie Alla (46) und Tochter Bella (14) haben auf dem Berg ein Zuhause auf Zeit gefunden. Schon als die ersten Flüchtlingsbilder in den Zeitungen standen und über die Fernsehbildschirme flimmerten, stand für Cord Neuhaus fest: &bdquo;Da musste was passieren, da mussten wir etwas beitragen“, sagt der Vorsitzende des Bergkirchener Presbyteriums rückblickend. Sieben Zimmer, Wohnzimmer, Küche, zwei Bäder, Gäste-WC und eine weitere Dusche im Keller stehen im ehemaligen Pfarrhaus zur Verfügung. Platz, der aber bisher nicht ausgeschöpft wurde. "Voll belegt waren wir bisher noch nie", bilanziert Neuhaus. Ein Vorteil für die Unterkunft. "Dadurch, dass hier nie mehr als 14 Menschen gelebt haben, war es immer familiär und friedlich." Stress gab es nicht. Auch, so vermutet Neuhaus, weil nur Frauen und Kinder Unterkunft finden. "Die ersten beiden Familien konnten wir bereits in eigene Wohnungen vermitteln." Es gibt kaum Plätze in Sprachkursen Roxanna, so erzählt Neuhaus, sei eine von ihnen. Nach Hause, nach Cherson, könne sie nicht. "Ihr Haus ist von den Russen besetzt", berichtet Natalia, die aus Kiew stammt. Sie gehört ebenfalls zu den ersten Frauen im Pfarrhaus und ist jüngst mit Mann und Kindern in eine eigene Wohnung gezogen. Der Krieg, er ist in jeder Ecke der Ukraine anders. Nur eines habe das Land gemeinsam: "Es ist überall unsicher, niemand weiß, was morgen kommt. Es werden Schulen und Krankenhäuser bombardiert. Meine Mutter lebt seit acht Monaten im russischen Territorium, sie hat kein Geld, kein Essen", erzählt Natalia. Auch sie hat keinen Plan, was noch kommt im Leben. "Ich habe in Kiew im Ministerium gearbeitet, hatte einen guten Job, möchte auch zurück." Nur wann? Diese Frage kann wohl derzeit niemand beantworten. "In Deutschland wird es in meinem Beruf schwierig." Schwierig ist es offenbar auch, Plätze in Sprachkursen zu bekommen. Nur Maria hatte bisher Glück. Die 24-Jährige bringt morgens ihren Sohn in die Kita, besucht den Sprachkursus und brütet nachmittags über den Hausaufgaben. Etwas, dass auch Mariana gerne machen würde. Doch die 26-Jährige hat bisher keinen Platz bekommen - ebenso wenig wie für ihren Sohn im Kindergarten. Dabei wäre das genauso wichtig. "Oleksii kommt im Sommer in die Schule - da würden noch einige Monate Kita bei der Sprache enorm helfen", weiß Cord Neuhaus. Doch alle Bemühungen waren bisher vergebens. Bella dagegen lernt in der Schule fleißig Deutsch. Die 14-Jährige ist zusammen mit ihrer krebskranken Mutter Alla nach Bad Oeynhausen gekommen, zur Freundin Vita Schlüter, die bereits seit 25 Jahren in Bad Oeynhausen lebt und auch an diesem Nachmittag beim Übersetzen behilflich ist. Neben dem Unterricht am Immanuel-Kant-Gymnasium nimmt Bella außerdem am Online-Unterricht ihrer ukrainischen Schule teil. "Weil ich nach Hause will", sagt sie. Das wollen sie alle, die im Pfarrhaus leben. Schon weil die Männer und Väter dort sind und an der Front kämpfen. Nur Tatjana (60) kann sich ein Leben in Deutschland vorstellen. "Eine kleine Wohnung, Arbeit", das wäre ihr Traum. Doch auch für den braucht es zwingend einen Sprachkursus. "Hier gibt es Natur pur" Im April sind Maria, Michael und Tatjana ein Jahr im Pfarrhaus, zuvor lebten sie einige Zeit bei Freunden in der Kurstadt. Ein Jahr, dessen Anfang schwer war. "Aber die Monate sind schnell vorbeigegangen", sagt Maria rückblickend. Lang würden die Tage in Bergkirchen nicht. Auch, weil es viel Hilfe aus dem Ort gebe. "Wir haben im letzten Jahr viele Ausflüge mit unseren Gästen gemacht, waren mit den Kindern im Dino-Park, waren in Holland oder sind samstags mit den Kindern zu Fußballspielen gefahren", zählt Cord Neuhaus auf. Im vergangenen Sommer sei zudem noch ein kleiner Gemüsegarten angelegt worden. Alle Frauen kommen aus Großstädten und sind trotzdem voll des Lobes für das kleine beschauliche Bergkirchen. "Natur pur", sagt Tatjana. "Ruhe, viel Sauerstoff und nette Leute", ergänzt sie, gebe es. "Für die Kinder ist das Spielparadies", findet Mariana. Und Maria wurde im vergangenen Sommer ein bisschen an Urlaub erinnert: "Wir hatten ein kleines Planschbecken im Garten und einen Grill." Das habe die Gedanken an die Heimat, an den Mann an der Front für wenige Augenblicke nach hinten schieben können. "Aber wir kommen lieber als Touristen - und nicht aus diesen Gründen", urteilt Maria und spricht sogleich die Gegeneinladung aus. Und die wollen Sabine und Cord Neuhaus durchaus annehmen. "Wenn es die Situation irgendwann zulässt wollen wir mit einigen Bergkirchener Helfern im Kleinbus in die Ukraine." Eine Rundreise solle das werden, um alle Bewohnerinnen des Pfarrhauses wiederzusehen. "Außerdem hat sich die eine oder andere ja auch Eigentum angeschafft - so dass wir den ein oder anderen Transport begleiten müssen." Wenn denn irgendwann an eine Rückkehr zu denken sei. "Niemand hat gedacht, dass das solange dauert", winkt Übersetzerin Vita Schlüter ab. "Wir dachten auch, die Frauen und Kinder ziehen für wenige Monate ins Pfarrhaus, dann wird es wohl wieder gut sein", ergänzt Cord Neuhaus. Danach sieht es derzeit immer noch nicht aus. Vorerst wird das Pfarrhaus das Zuhause bleiben. Ein Zuhause auf Zeit. Für wielange allerdings, das weiß niemand.

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