Expertin im Interview Hochsensibilität: "Eltern müssen erkennen, dass ihr Kind anders ist"

Lemgo. Sensibel, feinfühlig - wer möchte das nicht sein. Doch mitunter sind die Sinne so gefordert, dass es zum Problem werden kann. Von Hochsensibilität ist dann die Rede, Schätzungen zufolge ist jeder fünfte Bürger betroffen. Frau Büschen, wir leben in einer digitalen Gesellschaft, fast rund um die Uhr sind wir dank Smartphone & Co. Reizen jeglicher Art ausgesetzt. Von Reizüberflutung ist da immer wieder die Rede, doch mit Hochsensibilität hat das nur wenig zu tun, oder? Käthe Büschen: Das muss man unterscheiden. Der Unterschied ist wohl: Der eine ist genervt, kann sich dann aber schnell wieder fangen, beim Hochsensiblen aber schwappt das System sprichwörtlich über, er kann die Reize einfach nicht mehr verarbeiten. Das müssen Sie uns erklären, Frau Büschen. Wie genau äußert sich Hochsensibilität? Zunächst einmal und das ist ganz wichtig: Hochsensibilität ist keine Krankheit. Es ist eine Eigenschaft, eine Veranlagung, ähnlich wie es die Linkshänder gibt. Hochsensible haben unendlich feine Filter, in ihrer Wahrnehmung bleibt daher viel mehr hängen. Das ist wie ein feines Sieb. Alles wird ganz genau angeguckt, Empfindungen und Eindrücke werden in einer Art Tiefenwahrnehmung aufgenommen. Ob Licht, Gerüche, Lärm oder auch schöne Dinge - alles wird in seine Kleinstteile zerlegt und flutet quasi die Empfindungen. Muss das denn problematisch sein? Nun, diese Tiefenwahrnehmung, die kostet Energie. Hochsensible Menschen sind relativ schnell erschöpft, kommen gegebenenfalls auch schneller an ihre Grenzen, ihre Komfortzone ist einfach kleiner. Und das führt zu Verhaltensauffälligkeiten? Hochsensibilität kann sich ganz unterschiedlich äußern. Viele Betroffene ziehen sich zurück, andere sind schneller reizbar, können ihre Wut schlechter zügeln. Sind die einen schneller erregbar, reagieren andere verstört auf äußere Reize. Viele neigen zum Einzelgängertum und brauchen ihre Ruhephasen. Muss Hochsensibilität denn generell zum Problem werden? Nein, generell sollten wir es als besondere Fähigkeit betrachten, als Bereicherung. Und es gibt viele, die gut damit zurecht kommen. Sie haben das richtige Umfeld, einen Beruf, der zu ihnen passt und ganz intuitiv gemerkt, was ihnen gut tut und was nicht. Bei anderen aber ist der Leidensdruck groß. Sie merken, dass sie anders sind und kommen damit nicht klar, fragen sich: Was ist mit mir nicht richtig? Und da eben muss man aufpassen, dass sich aus diesen Stressfaktoren nicht etwa eine Depression entwickelt. Nehmen wir das Beispiel mit dem Bonbon-Papier. Das Bonbonpapier? Viele Hochsensible haben einen großen Gerechtigkeitssinn und sie können da nicht loslassen. Wirft jemand etwa ein Bonbonpapier in die Büsche, dann können sie das nicht stehen lassen. Sie sehen die Gefahren für Tier und Umwelt, das eskaliert dann im Kopf, bestimmt ihr Denken. Auf die Gruppe können sie sich dann nicht mehr konzentrieren. Andere, vor allem Kinder, liegen stundenlang auf der Wiese und beobachten Blumen und Insekten, statt mit den anderen Kindern zu spielen. Und daraus ergeben sich dann Konflikte. Ja, leider. Dabei sind Hochsensible sehr harmoniebedürftig; werden sie von anderen abgelehnt, für ihr Verhalten kritisiert oder auch von anderen Kindern als Langweiler beschimpft, dann geht ihnen das sehr nahe und kann zu hohem Leidensdruck führen. Was also tun? Hochsensible sollten überlegen, welchen Rahmen sie brauchen. Was tut ihnen gut, was sollten sie meiden? Mehr Ruhepausen einlegen, die Reize reduzieren. Und kein schlechtes Gewissen haben, wenn man nicht auf die Party oder das Treffen in der Gruppe geht. Kommt es dann doch zu Konflikten, so gibt es durchaus Methoden, um sich dem zu entziehen. Wichtig ist die Erkenntnis: Nicht jeder versteht mich, so wie ich auch nicht jeden verstehe. Der eine schwimmt im flachen Wasser, Hochsensible sind als Tiefseetaucher unterwegs. Beides hat seine Berechtigung. Für Erwachsene ist das intellektuell sicherlich leichter nachzuvollziehen als für Kinder. Da sind vor allem auch die Eltern gefordert. Genau, und auch das ist ein Entwicklungsprozess. Eltern müssen erkennen, dass ihr Kind anders ist, andere Bedürfnisse hat. Sie sollten ihr Kind ernst nehmen, es bestärken, statt versuchen, es zwanghaft in der Gruppe zu integrieren. Manchmal müssen sie sich dabei auch von ihren eigenen Vorstellungen einer glücklichen Kindheit verabschieden. Doch wie unterscheide ich, ob das Kind wirklich hochsensibel ist oder einfach seinen Willen durchsetzen will? Nachfragen. Welche Bedürfnisse hat das Kind. Nehmen wir den Pulli. Hochsensible Kinder sind oft sehr empfindlich, was Materialien angeht. Ein Pulli kann da schnell als unangenehm kratzend empfunden werden. Fragen sie das Kind, warum es den Pulli nicht anziehen will. Sagt es, 'weil ich nicht will', können wir wohl von einer Machtprobe ausgehen. Klagt es aber über das Kratzen, über das Jucken auf der Haut, dann sollten wir es ernst nehmen und einfach den Pulli wechseln, auch wenn wir ihn vielleicht als sehr weich empfinden. Und doch bleibt diese Veranlagung schwer zu definieren und von anderen Bereichen abzugrenzen. Es gibt Stimmen von Kritikern, die die Hochsensibilität als eine Modeerscheinung der Gesellschaft betrachten, geschaffen auch, um Neurosen zu ummanteln. Vor rund 30 Jahren von der amerikanischen Psychologin Elaine Aron erstmalig thematisiert und erforscht, gibt es bis heute noch relativ wenig wissenschaftliche Untersuchungen zur Hochsensibilität. Die Literatur galt lange Jahre als veraltet, doch mittlerweile hat sich da schon einiges getan. Es gibt Fragebögen, die einen relativ guten Aufschluss darüber geben, ob Hochsensibilität vorliegt. Noch immer aber ist nicht geklärt, wie es zu einer Hochsensibilität kommt. Zum Teil ist sie angeboren, kann sich aber wohl auch entwickeln. Aber klar, die Diagnostik fällt oft schwer und die Überforderung im Alltag kann auch andere Ursachen haben. ADHS oder auch Autismus zum Beispiel, auch das sind Störungen in der Reizverarbeitung, die sich aber letztlich deutlich abgrenzen lassen. Für alle Fälle aber gilt: Niemand sollte sich scheuen, Arzt,Therapeuten oder andere Experten um Rat zu fragen. Zur Person Käthe Büschen stammt ursprünglich aus Oberfranken. Die gelernte Krankenschwester, studierte Sozialpädagogik, um Erziehungsstellen anzubieten. Die 48-Jährige hat eine Kinder- und Familientherapeutische Zusatzausbildung und ist unter anderem auch als Supervisorin und Coach tätig. In einer halbjährigen Ausbildung qualifizierte sie sich zudem im Bereich Hochsensibilität weiter. In Lemgo arbeitet Käthe Büschen unter anderem für den Verein "Lebenskünstla" aus Lüerdissen.

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