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Projektleiter Christian Stüber (2. v. l.) ist Mitglied des Löschzugs Helpup der Freiwilligen Feuerwehr. Er ist Ansprechpartner vor Ort. Die wissenschaftliche Begleitung gewährleistet Clemens Tangerding (4. v. l.) von der Gießener Universität. - © Privat
Projektleiter Christian Stüber (2. v. l.) ist Mitglied des Löschzugs Helpup der Freiwilligen Feuerwehr. Er ist Ansprechpartner vor Ort. Die wissenschaftliche Begleitung gewährleistet Clemens Tangerding (4. v. l.) von der Gießener Universität. | © Privat

Oerlinghausen Auf den Spuren der Nazizeit

Eine Gruppe Oerlinghauser Bürgerinnen und Bürger arbeiten die Zeit der Stadt während der Nazi-Diktatur auf und recherchieren in einem besonderen Archiv.

Gunter Held
05.08.2022 , 07:11 Uhr

Oerlinghausen. Der Verband der Feuerwehren und die Universität Gießen betreiben Vergangenheitsbewältigung. Im vergangenen Jahr wurde das Projekt „Das Dritte Reich und wir“ aus der Taufe gehoben. Mit dem „Dritten Reich“ ist die Nazi-Diktatur von 1933 bis 1945 gemeint. Von der Justus-Liebig-Universität kümmert sich Clemens Tangerding um Oerlinghausen, Projektleiter in der Bergstadt ist Christian Stüber.

Nachdem bei zwei Treffen zunächst Bergstädter gesucht wurden, die sich an dem Projekt beteiligen und die womöglich noch Exponate aus der Zeit der Nazi-Diktatur haben (NW berichtete), geht es jetzt auf Spurensuche.

Das Projekt „Das Dritte Reich und wir“ befindet sich in der Recherche-Phase. Nun war es den Projektteilnehmerinnen und -teilnehmern aus Oerlinghausen möglich, das „Internationale Zentrum über NS-Opfer“ zu besuchen. Die Möglichkeit, die Archivarbeit dort kennenzulernen und eigene Recherchen vorzunehmen, nutzten zehn Teilnehmer. Das früher unter dem Namen ITS (International Tracing Service, also Internationaler Suchdienst) bekannte Zentrum für Dokumentation, Information und Forschung über die nationalsozialistische Verfolgung, NS-Zwangsarbeit sowie den Holocaust, befindet sich im hessischen Bad Arolsen.

220 Mitarbeiter beschäftigen sich mit NS-Opfern

Das Archiv dient heute noch zur Klärung von Schicksalen von Verfolgten des NS-Regimes. Auch die Erteilung von Auskünften an Überlebende und Familienangehörige von NS-Opfern gehören zu den Aufgaben der rund 220 Beschäftigten.

Gleich zu Beginn erfuhren die Teilnehmer, dass ein internationaler Ausschuss von elf beteiligten Ländern Aufsicht über die Arbeit und die Aufgaben des Archives hat. Rund 30 Millionen Dokumente geben Informationen und Hinweise zu mehr als 17 Millionen Menschen. Die Gruppe aus Oerlinghausen, die zu einer der ersten Gruppen gehörte, die nach den vergangenen zweieinhalb Pandemiejahren das Archiv besuchen konnte, hatte ein Ziel: möglichst viele Informationen zu Oerlinghauser Opfern der NS-Herrschaft digital abzuspeichern.

Hierfür folgte im Anschluss an die Einführung eine grobe Übersicht, über die digitalen Bestände im System. Die umfangreichen Such-Optionen und Möglichkeiten wurden erklärt und nach der Mittagspause konnten die Teilnehmer eigene Suchen an PC-Arbeitsplätzen starten.

Hinweise zum Thema Zwangsarbeit in Mackenbruch

„Ich bin sicher, dass wir einige neue Hinweise, insbesondere zum Thema Zwangsarbeit auf den landwirtschaftlichen Höfen in Mackenbruch, oder in anderen Ortsteilen mitnehmen konnten“, sagt Projektleiter Christian Stüber. Auch für private Recherchen oder allgemeine Informationen konnten die Teilnehmer die Zeit nutzen. „Bedrückend“, beschreibt Stüber die Archiv-Recherche, „die akribische Buchführung der Nazis dokumentiert die Verschleppung aus den von Deutschen besetzten Gebieten, bis hin zu heimischen Unternehmen, die im Leinen-Gewerbe oder in der Papierindustrie tätig waren.“

Auch auf Dokumente, die jüdischen Bewohnerinnen und Bewohnern aus Oerlinghausen zuzuordnen waren, stießen die Teilnehmer. Die Archivfunde werden nun unter der wissenschaftlichen Begleitung von Clemens Tangerding gesichtet. Anschließend folgen weitere Recherchen, bevor der nächste Workshop im Bürgerhaus in Oerlinghausen am 14. September stattfindet.

Kommentar

Gute Sache, falscher Name

Gunter Held

Die Aufarbeitung der dunkelsten Zeit des Landes der Dichter und Denker zwischen 1933 und 1945 kann gar nicht intensiv genug betrieben werden. Deshalb ist das Projekt, das die Justus-Liebig-Universität Gießen in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Feuerwehrverband vorantreibt, sehr zu begrüßen. Dennoch gibt es einen Kritikpunkt.

Die Intention steht auf der Homepage des Projekts: „Statt Geschichtsbücher zu wälzen, werden Spuren der NS-Zeit vor der eigenen Haustür gesucht, erforscht, diskutiert und sichtbar gemacht.“

Etwa 30 Oerlinghauser beteiligen sich an dem Projekt. Kritisch zu sehen ist der Name des Projektes. Es heißt „Das Dritte Reich und wir“. Mit der Bezeichnung Bezeichnung „Das Dritte Reich“ wird ein Nazi-Terminus übernommen.

In den 1920er Jahren wurde der Begriff von den Nationalsozialisten propagandistisch eingesetzt, um die von ihnen angestrebte Diktatur in eine Traditionslinie mit dem 1806 untergegangenen Heiligen Römischen Reich (1. Reich) und dem 1871 gegründeten Kaiserreich (2. Reich) zu stellen. Die Weimarer Republik sollte hingegen von beiden abgegrenzt und dadurch delegitimiert werden. Bis 1939 und darüber hinaus war der Begriff auch als Selbstbezeichnung der NS-Diktatur gängig.

Es hätte durchaus Begriffe gegeben, die ebenso eingängig sind: Das NS-Regime und wir. Die Nazi-Diktatur und wir. Der NS-Staat und wir. Das alles sind Bezeichnungen, die kurz und prägnant – aber unbelastet sind. So lobenswert das Projekt auch ist – die Namensgebung war unsensibel.

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