Stadtgeschichte Oerlinghausen Das schwere Los der Oerlinghauser Ziegler und ihrer Familien

Oerlinghausen. Sommerzeit – Urlaubszeit? Das war vor einem Jahrhundert nur ein frommer Wunsch. Tausende von lippischen Wanderarbeitern schufteten gerade in den Sommermonaten in Ziegeleien im Norden Deutschlands, in Holland und Dänemark, um den Lebensunterhalt für ihre Familien zu verdienen. Die Frauen und die jüngeren Kinder blieben für ein halbes Jahr zurück. Sie hatten sich um das Haus, das Vieh, die kleine Landwirtschaft zu kümmern. Um 1900 erreichte das Wanderziegelwesen in Lippe seinen Höhepunkt. Etwa jeder dritte erwerbstätige Mann in der Region arbeitete im Sommer als Ziegler, schätzt Ulrike Gilhaus, die das lippische Zieglerwesen erforschte. Aus Oerlinghausen stammten besonders viele Ziegelarbeiter, schreibt sie in einem Buch zur Ausstellung des Ziegeleimuseums Lage. Nach dem Niedergang des Leinengewerbes fehlte es auch im Bergdorf an Arbeitsplätzen. Und die Zigarrenindustrie konnte den Mangel nicht wettmachen. &bdquo;Sohn, jetzt kommst Du mit mir auf Ziegelei“, lautete der klassische Spruch in den Arbeiterfamilien. Schon mit dem Ende der Schulzeit, nach der Konfirmation, gingen üblicherweise die Söhne mit dem Vater für ein halbes Jahr &bdquo;auf Ziegelei“. Schwere körperliche Arbeit wartete auf sie in den ländlich gelegenen Ziegelbrennereien. Bereits im Winter hatten die Ziegelmeister, also die Gruppenleiter, mit einem Ziegeleibesitzer einen Vertrag für eine Kampagne abgeschlossen. Dann stellten sie ihre Mannschaft zusammen, und im Verbund reisten die Arbeitsgruppen dann zu den jeweiligen Produktionen. &bdquo;In Oerlinghausen gab es 1895 allein an der Detmolder Straße elf Ziegelmeister, von denen einige auf weit entfernt liegenden Ziegeleien im In- und Ausland tätig waren“, beschreibt Heimatforscher Werner Höltke die Arbeitssituation jener Zeit. Die Ziegler nahmen ihren Proviant in Speckkisten mit Bei der Anreise nahm man viel Proviant in sogenannten &bdquo;Speckkisten“ mit. In den Eisenbahnwaggons in der vierten Klasse konnten die Kisten mit den Habseligkeiten in der Mitte gelagert werden. Die Männer waren ja Selbstversorger in der Fremde, und die Zieglerfamilien besaßen zu Hause meist eine kleine Landwirtschaft mit Ziege oder Schwein. Das, was im Winter geschlachtet wurde, wanderte als Würste, Speck und Schinken zum Teil in Kisten mit zu den fernen Ziegeleien. Wie eine Familie lebten die Ziegler in ihrer &bdquo;Männerwelt“ in den Unterkünften an der Ziegelei, heißt es. Zum Koch ernannte man einen sehr jungen oder älteren Ziegler, deren Arbeitsleistung am Brennofen oder in der Vorbereitung der Ziegel nicht ganz so hoch war. Morgens gab es den berühmten Kanten Brot mit Aufstrich und einen Malzkaffee, den &bdquo;Muckefuck“. Mittags dann eine dicke, kräftige Suppe aus Hülsenfrüchten und Kartoffeln, vielleicht etwas Bauchfleisch. Abends verzehrte man die Reste vom Mittag oder selbstgeschmierte Brote. Auch in der knappen Freizeit blieb man in der Unterkunft beieinander, denn jeder Pfennig musste ja gespart werden für den Winter bei den Familien zu Hause. Und die Arbeitszeit dauerte vom Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang – im Sommer also 14 Stunden und mehr. Musik und Gesang spielte eine große Rolle in den Abendstunden. Viele Ziegler brachten eine Mundharmonika oder ein kleines Akkordeon, eine sogenannte &bdquo;Quetschkommode“, mit. Nur am freien Sonntag konnten die Ziegler einzeln oder zu zweit mal die Umgebung der Ziegelei erkunden oder in den nächstgelegenen Ort spazieren. "Große Wäsche" im Zinkeimer Primitiv waren in der Regel die Unterkünfte, die hygienischen Bedingungen oftmals miserabel. In den einfachen doppelstöckigen Eisengestellbetten schliefen die Arbeiter auf Strohsäcken. Immer wieder plagten Wanzen die Ziegler. Die &bdquo;große Wäsche“ erledigte man im Zinkeimer einmal in der Woche. Derweil trugen die Frauen zu Hause die ganze Verantwortung für die Familie. Neben der Versorgung des eigenen Haushalts besserten viele Zieglerfrauen das karge Einkommen auf, indem sie noch beim Bauern für einige Stunden am Tag mithalfen. Auch die Kinder mussten – statt zur Schule zu gehen – auf dem Feldern mitarbeiten oder das Vieh hüten. Häufig vergrößerte sich die Familie auch noch in den Sommermonaten. Ein Kind wurde geboren und nur per Brief erfuhr der Vater von dem weiteren Nachwuchs. Erst im Herbst endet die Ziegelkampagne und die Männer kehrten nach Hause zurück. Mit dem verdienten Geld in der Tasche konnte man sich wieder etwas leisten. Neue Kleidung, Schuhe für die Kinder, eine Neuanschaffung für den Haushalt, und man konnte auch an den Festen oder Jahrmärkten teilnehmen. Aber auch im Winter saßen die Ziegler nicht nur in der warmen Stube herum. Vielfach gab es Arbeit im eigenen Ort, Bauarbeiten beim Nachbarn, Straßenbauarbeiten – oftmals Tätigkeiten, die jemanden erforderten, der an schwere körperliche Arbeit gewöhnt war. Eine außergewöhnliche Zieglerkarriere beschreibt Werner Höltke, dessen Großvater August Reuter Ende des 19. Jahrhunderts als Ziegelmeister viele Jahre in Dänemark tätig war. Reuter hatte bei seinen Auslandseinsätzen offenbar einen so guten Ruf erlangt, dass er um 1890 vom kaiserlichen Auswärtigen Amt den Auftrag erhielt, gemeinsam mit Ziegelmeister Korte aus Helpup in der deutschen Kolonie in Kamerun eine Ziegelproduktion aufzubauen. Als die beiden nach 18 Monaten Entwicklungsarbeit nach Oerlinghausen zurückkehrten, hatten sie viele Souvenirs im Reisegepäck. Sogar einen lebenden Papagei brachte August Reuter mit. Er war die Attraktion in Oerlinghausen.

Mehr zum Thema