Leopoldshöhe Das unterschätzte lebende Fossil mit Waldschutzkräften

Leopoldshöhe. Sie gehört zur Gruppe der Netzflüglerartigen, es gibt sie seit Millionen Jahren und nun ist sie zum Insekt des Jahres ernannt worden – die Schwarzhalsige Kamelhalsfliege. Dabei ist es gar nicht so einfach, ein Exemplar zu Gesicht zu bekommen. Welche Besonderheiten ihr noch zugeschrieben werden, erklären Vertreter des Leopoldshöher Naturschutzbundes (NABU). Ihr Name ist Venistoraphidia nigricollis, so heißt sie in der Insektenforschung. Ihr Aussehen: langer Hals, große, filigrane, glasklare Flügel. Fossile Funde zeugten davon, dass sie schon vor Millionen Jahren auf dem gesamten Erdball vertreten war, heißt es in der Mitteilung des NABU. Heutzutage sei sie aber nur noch auf der nördlichen Erdhalbkugel zu finden, weil sie kalte Winter für ihre Entwicklung benötige. Sie sei zwar nicht vom Aussterben bedroht, stehe aber regional vereinzelt auf der sogenannten Roten Liste bedrohter Tier- und Pflanzenarten.Das Faszinierende an den zierlichen Fliegern mit den langen Hälsen sei, dass sie schon zu Zeiten der Dinosaurier kaum anders ausgesehen habe als heute, ihr Erscheinungsbild sei nahezu unverändert – und unverwechselbar. &bdquo;Sie haben mit Fliegen genauso wenig zu tun wie mit Käfern oder Schmetterlingen, sie sind eine ganz eigene Ordnung in der Welt der Insekten mit einem einzigartigen Bauplan,“ erläutert Professor Thomas Schmitt vom Senckenberg Deutsches Entomologisches Institut in Müncheberg. Er ist Vorsitzender des Kuratoriums, das die Fliege, die keine Fliege ist, zum Insekt des Jahres 2022 gekürt hat.Und doch sei dieser Überlebenskünstler relativ unbekannt. Denn die Kamelhalsfliege entwickele sich laut Angaben von Insektenexperten dort, wo der Mensch sie kaum sehen könne – zum Beispiel in Baumrinden. Und sie hielten sich eher weit oben, in Baumkronen auf.In diesem Lebensraum, auf Bäumen, könnten sie sehr nützlich sein, sagt Hans Dudler, Insektenkundler beim NABU Leopoldshöhe. Denn sie fressen zum Beispiel Borkenkäferlarven oder auf Obstbäumen Eier von Apfelwicklern. Ihre Funktion im Ökosystem werde unterschätzt. Bedauerlich sei, dass ihre Rolle bei der Bekämpfung der Borkenkäfer noch nicht untersucht worden sei, sagt Dudler. Trockenheit und die Borkenkäferplage hatten den heimischen Wäldern in den vergangenen Jahren sehr zugesetzt, zahlreiche Fichtenbestände sind abgestorben, wie beispielsweise auf dem Oerlinghauser Tönsberg und in den Wäldern des Naturschutzgroßprojekts Senne und Teutoburger Wald.&bdquo;Wohl fühlen sich Kamelhalsfliegen in lichten Waldstrukturen, da, wo eine große Artenvielfalt vorliegt, in strukturreichen Biotopen“ erklärt Hans Dudler. Schließlich brauche sie andere Insekten als Nahrungsbeute, und die wiederum gedeihen auch nur dort, wo sie passende Lebensräume finden. Da sie und ihre Artgenossen weltweit verbreitet waren, wenn auch heute nur in der nördlichen Hemisphäre, könnte man meinen, dass sie mit ihren großen Flügeln ganz schön weit herumfliegen. Doch weit gefehlt. Hans Dudler: &bdquo;Kamelhalsfliegen sind standorttreu. Sie sind keine guten Flieger, sie flattern so herum. Nur ganz vereinzelt besiedeln Exemplare neue Lebensräume, das sind erstaunliche Ausnahmen. Warum sie das tun, zufällig vom Wind abgedriftet werden und in weiten Distanzen woanders neue Populationen ansiedeln, wissen wir bis heute nicht. Es ist aber ein in der Natur weit verbreitetes Phänomen. Für die Natur ist diese Dynamik der Verbreitung existenziell.“ Zufallssnack für Specht und Spinne Und wie sieht es mit der Bedeutung der Kamelhalsfliege als Nahrungslieferant aus? Dazu sagt Hans Dudler: &bdquo;Sie sind zu selten, um wirklich ein Sattmacher für andere Tiere zu sein. Eher so eine Art Abwechslung auf der Speisekarte.“ Eine Art Zufallssnack für den Specht, wenn er ins Holz hackt, für Spinnen, denen sie ins Netz fliegen, oder für den Kleiber. &bdquo;Sie sind einfach Teil der gesamten Insektenmasse, die als Futterquelle dient“, sagt der Insektenforscher. Tatsächlich zählen Kamelhalsfliegen in der Biologie zu den sogenannten &bdquo;R-Strategen“. Das &bdquo;R“ steht für Reproduktion: Das bedeutet, dass diese Tiere viele potenzielle Nachkommen in die Welt setzen, in der Hoffnung, dass einzelne Exemplare überleben. Kamelhalsfliegen-Weibchen legen – nach Beendigung ihrer ein- bis dreijährigen Entwicklung als Larve mit neun bis 15 Häutungen – Pakete mit bis zu 1.000 Eiern ab. Dass diese Strategie aufgehe, sei daran zu erkennen, &bdquo;dass wir Kamelhalsfliegen heute noch treffen können, Dinosaurier dagegen nicht“.

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