Prozess beginnt Kindesmissbrauch in Kalletal: Wenn Mütter zu Täterinnen werden

Kreis Lippe/ Kalletal. Dass Frauen ihren eigenen Kindern sexuelle Gewalt antun, passt nicht zur Vorstellung einer fürsorglichen Mutter. Doch es gibt sie: Knapp 44 Prozent der Sexualdelikte an Kindern werden laut Statistik innerhalb der Familie begangen, in acht Prozent der Fälle sind Mütter die Täterinnen. Am Dienstag muss sich eine von ihnen wegen schweren sexuellen Kindesmissbrauchs vor dem Detmolder Landgericht verantworten. Die Kalletalerin (32) soll drei ihrer Kinder sexuelle Gewalt angetan, die Taten fotografiert und etwa 100 Bilder an einen Bekannten aus Köln per Whatsapp verschickt haben. Seit August sitzt die Mutter in Untersuchungshaft. Angeklagt sind 13 Fälle zwischen April und Mai 2019. Die Frau soll unter anderem ihrer damals dreijährigen Tochter sexuelle Gewalt angetan und die Kleine sowie ihren drei Jahre älteren Bruder schwer sexuell missbraucht haben. Von allen Taten gibt es Fotos, bereits in U-Haft legte die Mutter ein Geständnis ab. &bdquo;Sie wollte ihren Kindern eine Aussage ersparen", sagt Verteidigerin Deborah Weinert. Das Motiv bleibt nebulös. Der Mann aus Köln, eine kurze Internetbekanntschaft, soll die Mutter aufgefordert haben – sie habe ihm gefallen wollen. Gegen den Mann läuft in Köln ein gesondertes Verfahren. In Detmold aussagen wird er nicht, sagt Weinert. Überhaupt würden viele Punkte &bdquo;zum Schutz der Kinder" nicht öffentlich verhandelt – auch die Anklageverlesung und die Einlassung der Mandantin. &bdquo;Das ist ein ganz kleiner Teil ihres Lebens, dessen Konsequenzen sie jetzt tragen wird", sagt die Verteidigerin. Doch wie können aus liebenden Müttern überhaupt Täterinnen werden? Eine passende Antwort gibt es nicht, meint Traumatherapeutin Ursula Enders von der Kölner Fachstelle &bdquo;Zartbitter". Die Autorin setzt sich seit Jahrzehnten für Hilfe für Betroffene und Prävention von Kindesmissbrauch ein, veröffentlichte bereits in den 90ern zu weiblicher Täterschaft. &bdquo;Die Frage nach dem Motiv ist eine klassische, die von den Opfern ablenkt", stellt Enders klar. Jeder Mensch, der wirkliches Mitgefühl für betroffene Kinder empfinde, sei nicht in der Lage, Kindern sexualisierte Gewalt anzutun – egal welches Geschlecht oder welche Beweggründe dahintersteckten. Durch eine an traditionellen Rollenbildern orientierte Erziehung seien es aber mehr Männer, die Kindern sexuelle Gewalt zufügen und sich dafür vor Gericht verantworten müssten. Ihnen wird grundsätzlich weniger Empathie vermittelt, meint die Autorin. Auch traue man Frauen Missbrauch seltener zu. &bdquo;Täterschaft passt schon gar nicht in das gesellschaftliche Rollenbild der Frau, weil ihnen an sich keine sexuellen Aggressionen zugesprochen werden", erklärt Enders. Sexuelle Übergriffe und Missbrauch durch Frauen werden oft nicht als Gewalt wahrgenommen. &bdquo;Wird der Junge von seiner Lehrerin missbraucht, gilt er noch eher als der junge Eroberer." Dass er sexuell ausgebeutet werde, komme gar nicht erst ins Bewusstsein. Umso schwerer falle es Betroffenen, darüber zu sprechen. Verräterin der Frauenbewegung Ursula Enders hat das selbst erlebt. Die heute 69-Jährige wurde als Jugendliche durch eine weibliche Bezugsperson missbraucht und haderte lange, öffentlich darüber zu reden. Oft sei sie damals auf Widerstand bei Männern gestoßen, die sich das sorgende Mutterbild nicht kaputt machen lassen wollten. &bdquo;Man stand sehr alleine da", sagt Ursula Enders. Gerade in den 1980ern sei man als Verräterin der Frauenbewegung abgestempelt worden – selbst in der Fachszene. Erst seit drei, vier Jahren sei das Thema gesellschaftlich präsent. &bdquo;Die Vorstellung von Frauen als Täterinnen ist so erschreckend, dass wir sie am liebsten ganz abstreifen wollen." Dabei hätten es Täterinnen besonders leicht, an potenzielle Opfer zu gelangen. Sie müssten – anders als Männer – keine mühevollen Strategien entwickeln und bekämen Kinder leichter anvertraut – ob in der Pflege oder in pädagogischen Einrichtungen. &bdquo;Wenn eine Erzieherin das Kleinkind an die Brust legt, ist das als Fürsorge getarnte sexuelle Ausbeutung", nimmt Enders als Beispiel. Männliche Erzieher würden von vorneherein kritischer beäugt. Weibliche Täterschaft bleibe öfter unentdeckt. Nach den Ergebnissen des Forschungsprojektes &bdquo;Sexueller Kindesmissbrauch durch Frauen" (siehe Kasten) gaben 90 Prozent der Befragten an, nie Strafanzeige gegen die Täterin gestellt zu haben. Wenn Betroffene sexualisierte Gewalt zur Anzeige brachten, vergingen laut Projekt zwischen der Tat und der Anzeige durchschnittlich 30 Jahre. Aus Scham oder Angst, oder weil sie die Taten verdrängt hatten, ließen viele eine lange Zeit verstreichen. Genau hier liege das Problem. Da viele Betroffene Angst hätten, sich dem Erlebten zu stellen, bleibe der Komplex ein tabuisiertes Dunkelfeld. &bdquo;Wir müssen einen sicheren Raum schaffen, in dem sich Betroffene äußern können", meint Enders. Männliche Täter stünden allein Jahrzehnte durch den Missbrauch in der Katholischen Kirche im Vordergrund. Erst durch die Aufdeckung des Missbrauchsfalls Lügde Anfang 2019 habe die Öffentlichkeit laut Enders überhaupt wieder mitbekommen, dass sexueller Missbrauch vorrangig in Familien und im privaten Umfeld stattfindet. Wenn das Bewusstsein für weibliche Täterschaft geschaffen werde, könnten Opfer besser geschützt werden. Für den Kalletaler Fall ist das zu spät.

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