Hiddenhausen Sieben Jahre nach eigener Flucht: Schülerin unterstützt Willkommensklasse

Hiddenhausen. "Mit neun Jahren hat sich mein Leben verändert." Mit diesem Satz beginnt Elionora Abramyan das Gespräch: Über ihre Geschichte, ihren Weg nach Deutschland und wie sie jetzt geflüchteten Kindern aus der Ukraine beim Neustart an der Olof-Palme-Gesamtschule hilft. Die 18-Jährige macht nächstes Jahr ihr Abitur in Hiddenhausen, will studieren und beantragt die deutsche Staatsbürgerschaft. Ihre Heimat aber bleibt Armenien. Alles auf Anfang: Das hat die 18-Jährige schon zweimal mitgemacht. Als sie neun ist, zieht ihre Familie von Armenien nach Russland. Die kyrillische Schrift beherrscht sie nur rudimentär. "In einem Jahr habe ich die russische Sprache gelernt, bin Klassensprecherin geworden und habe Freunde gefunden", sagt Abramyan. "Ich hab mich eingelebt." Zweimal alles auf Anfang 2015 heißt es dann wieder: Wir müssen weiter. "Ich war gar nicht begeistert. Alles war gut", erinnert sich die OPG-Schülerin. Wieder alles von vorn - davor hatte sie Angst. Wieder die Neue sein. Wieder die Sprache nicht sprechen. Nicht verstehen, nicht verstanden werden. In Deutschland besucht sie sechs Monate lang keine Schule, muss von einer Flüchtlingsunterkunft zur nächsten: Braunschweig, Remscheid, Bielefeld sind nur einige Zwischenstopps, bis die Familie in Hiddenhausen ankommen darf. Zwar habe es Unterrichtsstunden gegeben. "Aber da waren viel zu viele Menschen, um etwas zu verstehen." "Ich muss was dafür machen, damit ich bleiben kann" Es ist Ende 2015, als Abramyan endlich die internationale Vorbereitungsklasse der Olof-Palme-Gesamtschule besuchen und Deutsch lernen darf. "Ich habe jeden Tag geweint: Das ist schwer, ich werde das nicht schaffen", sagt Abramyan. "Von Null an Deutsch zu lernen hat mich eingeschüchtert." Aber das junge Mädchen beißt sich durch. Zuhause schreibt sie Vokabellisten, lädt sich Sprachlern-Apps herunter, schaut Kinderserien, die sie auf Russisch fast auswendig kennt. "Ich hatte immer im Kopf: Ich muss was dafür machen, damit ich bleiben kann." Sie versucht ihre Eltern zu unterstützen, bei offiziellen Briefen und Arztbesuchen übersetzt sie. "Damit man ruhig weiterleben kann." Viel Verantwortung für eine Zwölfjährige. "Von außen war ich Kind, aber im Kopf war ich schon reif genug, das zu verstehen", sagt die 18-Jährige heute über ihre Angst vor Abschiebung. Und noch etwas macht ihr zu schaffen: Die Sprachbarriere macht einsam. "Ich bin gern mit Menschen zusammen, allein zu sein war sehr schwer für mich." Mit Händen und Füßen einander kennenlernen In der Integrationsklasse muss es auch ohne Deutschkenntnisse gehen. "Sie kam aus Syrien, ich aus Armenien. Trotzdem haben wir irgendwie miteinander gesprochen, mit Händen und Füßen und Zeichnungen, und sind beste Freundinnen geworden", erzählt die Schülern. Heute belegt die Zwölftklässlerin einen Deutsch-Leistungskurs. "Zu Beginn klingt die deutsche Sprache grob und brutal. Aber sie ist vielseitig, man kann viel Schönes ausdrücken", sagt Abramyan. Seit einigen Wochen hilft sie in der Willkommensklasse der OPG aus, die für aus der Ukraine geflüchtete Kinder geschaffen wurde. "Man braucht Menschen, die das durchgemacht haben, die Tipps haben", begründet die Oberstufenschülerin ihr Engagement. "Allein wird man das nicht schaffen." "Integrationsklasse war mein Zuhause" Eine Lehrerin habe gefragt, ob sie Patin werden würde. Sie habe sofort zugesagt. "Vor fünf, sechs Jahren hatte ich niemanden, der Russisch oder Armenisch sprechen konnte", sagt Abramyan. Viele syrische Kinder waren damals in der internationalen Vorbereitungsklasse, wenige sprachen Russisch, nur sie und ihr Bruder Ukrainisch. "Die Kinder brauchen viel Unterstützung und müssen über ihre Probleme sprechen können", sagt sie. "Man kann aber mit Lehrern nicht so gut über Lehrer sprechen." Neidisch ob der unterschiedlichen Unterstützung ist sie nicht. "Ich bin sehr froh, dass sie das haben. Die Integrationsklasse war für mich ein kleines Zuhause neben der Regelklasse, und das ist die Willkommensklasse auch." "Ich finde richtig, was zur Zeit gemacht wird", sagt Abramyan dazu, dass derzeit zügig Unterkünfte gestellt werden - andere Geflüchtete wie ihre Familie lebten und leben oft monatelang in verschiedenen Flüchtlingsunterkünften. "Dieser Stress, so viel hin und her, wäre zu viel für die Menschen. Sie müssen von den Kriegsgedanken wegkommen." Zwischen Heimat und Staatsangehörigkeit Natürlich mache sie ihre eigene Fluchtgeschichte manchmal noch traurig. "Ich weiß nicht, was jetzt wäre, wenn ich geblieben wäre. Ich wäre eine ganz andere Person." Sie sei stolz auf das, was sie erreicht habe. "Heimat, das ist ein Ort, wo ich von jedem verstanden werde. Damit meine ich eher kulturelle Sachen als Sprache. Heimat ist, wo Verwandte sind, dein alter Spielplatz, die erste Schule, erste Freunde", sagt Abramyan. Und dann: "Armenien ist meine Heimat." Einen deutschen Pass hat sie nicht, sondern einen Aufenthaltstitel. Weil fürs Studium teilweise die deutsche Staatsangehörigkeit gebraucht werde, habe sie einen frühzeitigen Antrag gestellt. "Und ich möchte sie auch einfach haben." Denn zugehörig fühlt sich Abramyan in Hiddenhausen. "Als jemand aus der Regelklasse sagte: 'Komm, mach mit.' Oder wenn jemand mit dir Gruppenarbeit machen will", sagt Abramyan, "dann fühlt man sich hundertprozentig willkommen."

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