Hiddenhausen 36-jährige Professorin: Raus aus Weltuntergang und Dauerkrise

Hiddenhausen. Für das Interview mit der NW schaltet sich Maren Urneraus der Ruhrgebietsstadt Essen zu. An diesem Tag führt sie mehrere Gespräche hintereinander, denn dann ist sie im "Flow", kann ihre Aufmerksamkeit ganz und gar dem Gegenüber widmen, konzentriert über ihre Themen sprechen. Ihre Zeit ist in diesen Tagen knapp bemessen, Urners neues Buch "Raus aus der ewigen Dauerkrise" erscheint am 3. Mai. Darin beschreibt sie, wie sich unser Denken ändern muss, damit die Krisen unserer Zeit bewältigt werden können. Aktueller könnte das Thema kaum sein. Die Anfragen bei ihr häufen sich dementsprechend. Denn Urners Einschätzung wird nicht allein in Talkshowformaten wie dem von Markus Lanz erbeten. Die 36-jährige Neurowissenschaftlerin ist Professorin für Medienpsychologie an der HMKW Köln, gefeierte Bestseller-Autorin und Medienunternehmerin. Hätte man ihr diese Attribute kurz nach ihrem Abitur am Bünder Gymnasium am Markt zugeschrieben, sie hätte das für einen mäßig guten Scherz gehalten. Wie also ist aus einem Hiddenhauser Dorfkind eine viel zitierte Stimme der (kriselnden) deutschen Gegenwart geworden? Vielleicht beginnt alles mit den leeren Seiten eines orangefarbenen Buches, das ihre Mutter ihr zu Beginn der Grundschulzeit schenkt: "Marens Geschichtenbuch". So wird ihr Interesse für das Schreiben geweckt, mit dem Füllen der Seiten wächst die Begeisterung für Wörter, Sätze, ausformulierte Zusammenhänge. Einige Zeit später, sie ist da 15 Jahre jung, sucht sie sich deshalb für ein Schulpraktikum die Lokalredaktion der Neuen Westfälischen in Bünde aus. "Das war für mich der Einstieg in den Journalismus", berichtet sie rückblickend. Eines ihrer ersten Themen damals: die Sonnenfinsternis am 11. August 1999. Daran könne sie sich noch gut erinnern. Bis zum Jahr 2006 bleibt sie als freie Mitarbeiterin bei der NW, recherchiert, schreibt und fotografiert neben der Schule. Drei nerdige Wissenschaftler wollen etwas Neues ausprobieren Es ist die Zeit, in der sie sich Gedanken über ihre berufliche Zukunft macht. Der Journalismus wäre eine Option, ein Studium möchte sie jedoch vorab absolvieren. Urner interessiert sich da bereits für Medizin und insbesondere Psychologie: Warum sind alle Menschen unterschiedlich? Wieso ziehen sie aus den gleichen Erlebnissen unterschiedliche Schlüsse? Wie kommunizieren wir? Diese Fragen bringen sie an die Universität Osnabrück, wo sie Cognitive Science, also Kognitionswissenschaften, studiert. Später zieht es sie nach Kanada und in die Niederlande. "Da hat mich die Forschung gekriegt." Ein Promotionsstipendium ermöglicht ihr einen vierjährigen Aufenthalt am University College London. Die wichtigste Lehre auf dem Weg zur Doktorarbeit sei jedoch nichts Wissenschaftliches, nichts Akademisches gewesen. Stattdessen sei es die Fähigkeit, auf sich (allein) gestellt Probleme zu lösen, mutig voranzugehen, nicht utopisch, sondern mit einer Learning-by-doing-Mentalität, wie sie heute sagt. Diese Einsicht führt sie zu ihrem nächsten, längst deutschlandweit bekannten Projekt. Denn Urner merkt da: Sie will wieder raus aus der wissenschaftlichen Blase. "Was kann ich mit dem Wissen, das ich habe, zu Lösungen beitragen?", ist eine Frage, die aufkommt. Zurück in Deutschland trifft sie alte Freunde, darunter den Neurowissenschaftler Han Langeslag und den Physikochemiker Bernhard Eickenberg. "Wir waren drei nerdige Wissenschaftler, die mal was Neues im Journalismus machen wollten." Auf die Frage, was sie tun können, folgt die Idee zu Perspective Daily - einem Onlinemagazin für konstruktiven Journalismus. Die übergeordnete Frage jeder Recherche lautet: Was jetzt? Bei jeder Recherche steht dabei eine übergeordnete Frage über allem: "Was jetzt?" Die Texte belassen es nicht bei einer Umschreibung des Problems. Im besten Fall üben sie konstruktive Kritik, zeigen in einer schwarz-weiß wahrgenommenen Welt Grautöne auf und behalten die Auswirkungen der Berichterstattung auf die Psyche der Menschen im Blick. Ganz plastisch: "Das Reden über Probleme schafft Probleme, das Reden über Möglichkeiten schafft Möglichkeiten", wie Urner den Psychotherapeuten Steve de Shazer zitiert. Denn von Problemen und Krisen mangelt es in der Berichterstattung nicht: Klima-Krise, Corona-Krise, Lebensmittel-Skandale - die Liste ließe sich beliebig fortsetzen. Die Konsequenzen für das menschliche Gehirn hat Urner in ihrer Forschung und ihren Publikationen im Blick: "Stress und Angst sind keine guten Berater", resümiert sie. Den gefühlten und den echten Krisen der Welt stehen Individuen meist machtlos gegenüber. Resignation und Abstumpfung sind dann die Folge. Probate Mittel dagegen gibt es viele. Fragt man Maren Urner nach dem Weg aus der Krise, kommen beispielsweise wieder die Grautöne ins Spiel. Unsicherheiten müssten kommuniziert werden, Abwägungsprozesse transparent sein. Ein Blick auf die eigene Medien- und Informationshygiene kann ebenfalls nicht schaden. Und "ich kann mich mit Menschen umgeben, die mir Selbstwirksamkeit geben". Warum sie niemals einen Ratgeber schreiben wird Denn nur was ein Mensch zu verändern vermag, verleiht ihm ein Gefühl von Kontrolle entgegen einer wahrgenommen Ohnmacht. Beispiel: Den Müll kann jeder daheim trennen, ausreichend Impfstoff gegen Covid-19 besorgen jedoch nicht. "Ich habe nur die Chance, eigene Mechanismen zu entwickeln." Allerdings gibt es Urner zufolge dafür kein Patentrezept. "Jedem, dem ein allgemeingültiges Prinzip auf konkreter Ebene angeboten wird, der sollte sich umdrehen und weggehen." Eine Schablone zur Lösung von Problemen sei nicht vorhanden. Deshalb würde sie auch niemals einen Ratgeber mit konkreten Tipps und Handlungsanweisungen schreiben, nach dem Motto: Tue dies, lasse jenes und dann wirst du ein glücklicher Mensch. "Ich muss ausprobieren, was für mich gut ist", rät die Wissenschaftlerin. Die 36-jährige Maren Urner jedenfalls scheint für sich einen Weg gefunden zu haben. Zwischen Wissenschaft und öffentlicher Kommunikation fühlt sie sich wohl. Wie es für sie weitergeht, vermag sie jedoch genau so wenig vorherzusehen wie damals, als sie Hiddenhausen für ihr Studium verließ. Am Ende ist alles jedenfalls noch besser gelaufen, als sie es wohl trotz ihrer durchweg positiven Grundeinstellung vor ein paar Jahren angenommen hätte. Ihr bescheidender Wunsch: "Ich möchte meine Neugier behalten und mutig in die Welt treten."

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