Herford Wie Kinder mit dem Tod leben lernen

Herford. Eine Küche in Herford: Zwei kleine Mädchen höhlen zusammen einen Kürbis aus. Gemeinsam mit ihrem Vater wollen sie Kürbiskernbrot backen. Die zweijährigen Zwillinge sind mit so viel Eifer bei der Sache, dass die Kürbiskerne nicht immer dort landen, wo sie eigentlich hinsollen, sondern auch mal auf dem Küchenboden Station machen - ganz normales Familienleben. Doch die Freude kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass eigentlich noch jemand beim Backen dabei sein sollte: ihre Mutter. Doch sie lebt nicht mehr. Bevor die Mädchen geboren wurden, wünschte sich das Ehepaar Arens* schon länger Kinder. Als das Glück perfekt schien, erlebte das Paar den ersten Schicksalsschlag: eine Fehlgeburt. Doch davon ließen sich die Herforder nicht unterkriegen - und sie hatten Glück. Sie wurde abermals schwanger: Zwillinge sollten es werden. 2018 kamen sie gesund auf die Welt. Mit "Lebenswut" durch die schwere Zeit Doch nach einem Jahr Familienglück bekam die Mutter im Juni 2019 die Diagnose Krebs. Unheilbar. Im Endstadium. Wo sich andere Erkrankte verkriechen würden, ließ sich die zweifache Mutter nicht unterkriegen. "Lebenswut" nennt ihr Mann die Energie seiner Frau. Neben der Chemotherapie wurde die Wohnung weiter renoviert, bis fünf Tage vor ihrem Tod blieb die Mutter komplett selbstständig, ließ sich nur von einem Pflegedienst unterstützen. Ihre Schwiegereltern campierten wochenweise auf der Hausauffahrt, um bei der Renovierung zu helfen, auch ihre eigenen Eltern packten mit an. Kindern die Krankheit der Mutter erklären Trotz der Unterstützung mussten die Eltern eine weitere schwierige Hürde meistern: Wie sollten sie den beiden Mädchen erklären, wie krank ihre Mutter war und was die Krankheit für die Familie bedeuten würde? Zum Glück war das Paar mit der Situation nicht gänzlich auf sich allein gestellt. Ihre Hausärztin Nanis Taha griff den beiden unter die Arme. Sie erklärte den Zwillingen, dass ihre Mama krank geworden sei und irgendwann zu einem Engel werden würde. "Wir haben die Krankheit nicht vor den Kindern versteckt", sagt der Vater. Die Zwillinge hätten mitbekommen, dass ihre Mutter einen künstlichen Darmausgang brauchte und waren dabei, wenn sich der Pflegedienst kümmerte. "Das Highlight für die beiden war das Hoch- und Herunterfahren des elektrischen Krankenbettes." Ein besonderer Abschied Nanis Taha hat sich für die Zwillinge zudem noch etwas Besonderes einfallen lassen: Gemeinsam mit den Mädchen nahm sie sich ein Bettlaken und teilte es in zwei Hälften. Die eine Seite gestaltete die Mutter gemeinsam mit ihren Töchtern, die andere Seite war den Mädchen und dem Vater sowie anderen Verwandten vorbehalten. Am 12. Mai dieses Jahres kam das Tuch dann zum Einsatz: Am Morgen dieses Tages verstarb die Herforderin zu Hause in ihrem eigenen Bett. Fünf Tage lang ließ ihre Energie immer mehr nach, sie war am Schluss kaum noch ansprechbar. Gemeinsam zerschnitten der Vater und die zweijährigen Töchter das Laken. Der Vater legte die eine Hälfte des Tuchs zu den Dingen, die mit in den Sarg gelegt werden sollten. "Damit Mama nicht friert", sagten die Zwillinge. Ein Verein wird gegründet Die Lebensenergie der Mutter, die bis zum Schluss weder sich noch ihre Familie aufgab, beeindruckte Nanis Taha nachhaltig. Und sie beschloss, einen Verein zu gründen, der Kinder in solch einer schweren Zeit und der Trauer begleiten sollte. Damit nicht allein die Eltern mit dieser Aufgabe konfrontiert seien. "Himmelsfalter" hat sie ihn genannt. "Kinder kommen in solchen Situationen oft zu kurz", beschreibt Taha. Daher sei es besonders wichtig, das Thema zu enttabuisieren und die Bedürfnisse der Kinder zu berücksichtigen. Und für schöne Erlebnisse zu sorgen, an die sich die Familie auch nach dem Tod immer wieder erinnern kann. Familie Arens war dank ihrer Initiative in diesem Jahr für einen Tag in Preußisch Oldendorf. Ein Rettungswagen und Sanitäter brachten die krebskranke Mutter dorthin, der Vater fuhr mit den Zwillingen hinterher. Kaffeetrinken, die Nähe zu Hühnern und Pferden und eine zweistündige Kutschfahrt gehörten zu den Highlights dieses Tages. Ein Freund der Familie machte von alldem Fotos und ein Video. Wunderschöne Erinnerungen Die Zwillinge gucken sich dieses Video seit jeher jeden Tag an. Für sie gehören diese Aufnahmen zu einem selbstverständlichen Teil ihrer Kindheit. Genauso wie die weißen Eulen, die eine Bekannte der Familie aus T-Shirts der Mutter nähte und ihnen als Kuscheltiere schenkte. *Namen von der Redaktion zum Schutz der Familie geändert Statistische Zahlen, die zeigen, wie viele Halb- und Vollwaisen es in deutschlandweit gibt, existieren nicht. Die Angaben der Deutschen Rentenversicherung hinsichtlich der gezahlten Halb- und Vollwaisenrenten lassen ebenfalls nur eine erste Einschätzung zu, da in die gesetzliche Rentenversicherung beispielsweise Beamte oder Selbstständige nicht einzahlen und dementsprechend an die Kinder auch keine Rente ausgezahlt würde. Dennoch: Im Dezember 2019 zahlte die Deutsche Rentenversicherung über 300.000 Waisenrenten aus. Die Dunkelziffer von Waisen- und Halbwaisen dürfte jedoch wesentlich höher liegen.

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