Enger. Casey grübelt. Wie wird denn noch mal Marmelade geschrieben? Ihre kleine Hand umklammert einen roten Filzstift, Buchstabe für Buchstabe schreibt die Achtjährige M-A-R-M-E-L-A-D-E in ihr Rätselheft. Neben ihr sitzt Samuel (11) und starrt auf die Seiten einer Grundschullektüre. Sein Zeigefinger wandert flink über die Zeilen, er liest zügig, konzentriert. Unterbrochen in ihrem Tun werden die beiden nur, wenn ihre Lehrerin eine Frage stellt, etwas korrigiert oder ein neues Aufgabenblatt verteilt.
Klingt alles nach normalem Unterricht. Mit einer Ausnahme: Casey und Samuel sitzen nicht in der Schule, sondern in einem Wohnwagen auf einem Feld in Enger, umringt von Zirkuszelt, Pferdestall und Zirkuswagen des Circus Avalon. Unterrichtet werden sie von Michaela Paul, Lehrerin der Schule für Circuskinder NRW.
"Unser Angebot richtet sich an Kinder, die mit ihren Heimatzirkussen durch NRW reisen. Wir Lehrer fahren ihnen durch das ganze Bundesland hinterher und unterrichten sie direkt vor Ort", erklärt die Grundschullehrerin. Zweimal wöchentlich besucht Michaela Paul ihre beiden Schützlinge und unterrichtet sie wie in einer "normalen" Schule sechs Schulstunden lang. Für den Rest der Woche gibt es Hausaufgaben.
Die 40-Jährige bereitet die beiden auf den Real- oder Hauptschulabschluss vor. Denn in der zehnten Klasse stehen die zentralen Abschlussprüfungen bevor - auch für Kinder, die mit dem Zirkus durchs Land fahren.
Die "Schule für Circuskinder" ist eine private Ersatzschule, die es in dieser Form bisher nur in NRW und Hessen gibt. Ihr Träger ist die Evangelische Kirche im Rheinland. Rund 30 Lehrer unterrichten etwa 220 Kinder aus 80 Zirkussen. Weil es für Zirkuskinder keinen Kindergarten gibt, werden viele Kinder schon ab dem fünften Lebensjahr unterrichtet. Das zusätzliche Jahr dient dann als Vorschule.
In anderen Bundesländern müssen Zirkuskinder in den Städten, in denen ihr Zirkus gastiert, in "normale" Regelschulen gehen. Das ist mit allerlei Problemen verbunden: "Alle paar Wochen eine neue Schule - das ist nicht leicht für die Kinder. Neue Klassen, neue Lehrer, neue Bücher. Ein gutes Lernklima sieht anders aus", sagt Michaela Paul.
Der Unterricht müsse deshalb oft an den individuellen Leistungsstand der Kinder angepasst werden. Durch die ständigen Ortswechsel könne nicht strikt im üblichen Klassensystem unterrichtet werden. "Manche Kinder haben in Deutsch einen Leistungsstand der fünften Klasse, dafür in Mathe aber nur den eines Drittklässlers", erklärt die Lehrerin.
Speziell ab der neunten Klasse werde der Unterrichtstoff jedoch an den der Regelschulen angeglichen, um die Kinder angemessen auf den Schulabschluss vorzubereiten.
Die Schule für Zirkuskinder bildet die Kinder in Grundschule und Sekundarstufe 1 aus. Kinder, die das Abitur machen wollen, haben über den Internet-Lehrgang abitur-online.nrw die Möglichkeit dazu. "Zwei Zirkuskinder aus NRW haben das in diesem Jahr so gemacht und mit einem Einserschnitt bestanden. So erfolgreich wollen wir bleiben", erklärt die 40-Jährige.