RHEDA-WIEDENBRÜCK

Viel auf dem Balken verwahrt

Ilse-Marie Lichtenauer gewährt Einblick in die gesammelten Werke ihrer Familie

Das kleine Fachwerkhaus, von Adolf Lichtenauer in den 1950er Jahren gekauft, hatte morsche Balken und wurde vom Denkmalschutzamt als nicht erhaltenswert begutachtet. Es wurde zusammen mit dem Backsteinhaus, das an der Ecke Rathausplatz/Großer Wall stand und in dem im Erdgeschoss die Uhrmacher-Werkstatt untergebracht war, im Mai 1997 abgerissen | © FOTO: ARCHIV/POK

24.07.2010 | 24.07.2010, 00:00

Rheda-Wiedenbrück. Pinzetten, Schraubenzieher, Bohrer, Hämmerchen und Lupenbrille liegen auf der Werkbank neben Zifferblättern und Pendelfedern – so als hätte der Uhrmacher-Meister den Raum für eine Pause nur kurz verlassen. Doch es fehlt der Geruch nach Öl und Lauge, mit denen Uhren gereinigt und gangbar gemacht werden. Und der mit grünen Kacheln verzierte Ofen hat den Raum lange nicht beheizt – auch er erinnert heute daran, wie es früher in der Werkstatt Lichtenauer aussah.

Jahrzehntelang hatte Josef Adolf Lichtenauer in dem roten Backsteinhaus am Rathausplatz Uhren reguliert, gesäubert und repariert. Zu seinen Kunden zählten auch Kirchengemeinden. An der Wand hängt in einem Rahmen ein Kontrakt mit der evangelischen Kirchengemeinde, unterzeichnet 1854 von Pfarrer Holzwart. Er beauftragte Josef Adolf Lichtenauers Vorfahren mit der Wartung der Uhr an der Kapelle. Mit der fürstlichen Familie gab es ähnliche Verträge, die die Uhrmacher der Familie Lichtenauer mit der Instandsetzung der Schlossuhren beauftragten. Lichtenauer folgte einer Familientradition, die 1707 begründet wurde: Er übte das Uhrmacher-Handwerk in siebter Generation aus.

1898 wurde das so genannte Haus Lichtenauer gebaut, im Mai 1997 wurde es abgerissen. Vieles, was sich darin in fast 100 Jahren angesammelt hatte, hat Ilse-Marie Lichtenauer aufbewahrt. "Bei Lichtenauers wurde nichts weggeworfen, alles kam auf den Balken", erzählt die 79-Jährige. Sie selbst hätte sich zwar nie Trödel ins Haus geholt, ihr Mann aber habe immer gesagt: "Lass die alten Brocken da, wo sie sind."
Heute erfreut sich nicht nur Ilse-Marie Lichtenauer an den alten Dingen. Gern empfängt sie Besucher und gewährt ihnen einen Blick auf die gesammelten Werke – wie den Mitgliedern des Seniorenkreises der Arbeiterwohlfahrt. Ihnen liest sie aus einer alten Rechnung für eine Beerdigung vor. Damals kostete das Läuten der Glocken durch den Küster 3,50 Mark, für Wein und Zigarren wurden 7 Mark berechnet. Das regt die Damen zum Gespräch an, sie tauschen sich aus über Rhedaer Geschichte und Geschichtchen.

Oft sitzt Ilse-Marie Lichtenauer alleine in einem grünen, mit weißen Spitzendeckchen geschützten Ohrensessel und blättert in alten Schriften. Neben Reparaturbüchern, "in denen man wohl jeden Pohlbürger findet", gibt es viele fromme Werke, aber auch Tierarzttipps wie den "Vieh-Doktor". "Damals hatte ja jeder ein paar Nutztiere", so Ilse-Marie Lichtenauer. Für die Behandlung menschlicher Leiden gab es "Der biochemische Hausarzt", "denn ein Arzt war für die meisten Menschen zu teuer, außerdem mussten man Bürger sein, wollte man einen Arzt in Anspruch nehmen", weiß die 79-Jährige aus der "Naturhystorie" von 1770. Im Regal stehen auch "Vaterländische Gedichte" aus dem Jahr 1774 – "Werbung für Krieg wurde immer schon gemacht", sagt sie. Auch der Schreibtisch liegt voller Schätzchen: Rabattkarten, Sparkassenbücher, Eisenbahnreisekarten und Werbebriefe.

Auf einem Schrank stehen alte Zigarren-Rollbretter und Kuchenformen. "Gesammelt wurde das nicht, aber alles wurde aufgehoben", macht Isle-Marie Lichtenauer einen feinen Unterschied. Gelagert wurden die Dinge, weil sie von Nutzen hätten sein können – das Messing einer Öllampe beispielsweise hätte zum Löten gebraucht werden können. Und für die ehemalige Ladenglocke wurde eine Feder aus einer großen Uhr als Stößel verwandt.

Ilse-Marie Lichtenauer hat nach dem Tod ihres Mannes 1994 unzählige Zifferblätter, Messgeräte für Spindeluhren, Zeiger, Uhrwerke und Werkzeuge in einem unübersichtlich wirkenden Schrank mit zahlreichen Schubladen belassen. "Mein Mann hatte da immer alles zack-zack im Griff", erinnert die gebürtige Gütersloherin.

Sie ist heute noch manchmal überrascht, wenn ihr alte Stücke in die Hände fallen. Dazu gehören auch Ein-, Drei- und Sechs-Pfennig-Münzen aus der Kaiserzeit oder ein lederner Geldsack. Aufbewahrt wurden auch Blechspielzeug oder Serviettenringe.

Und so folgt eigentlich auch die 79-Jährige der Lichtenauerschen Tradition: sich von Nichts trennen zu können. Denn auch den Flur des Hauses, das an der Stelle des roten Backsteinhauses errichtet wurde, ziert die alte hölzerne Eingangstür mit dem Schriftzug "Seit 1827 – Uhren-Optik Lichtenauer".