Gütersloh Gefangen im eigenen Körper: Gütersloher leidet unter rätselhafter Krankheit

Gütersloh. Hauke S. (Name geändert) war 2018 das, was viele als Überflieger oder Senkrechtstarter bezeichnen würden. Ein smarter Typ mit Charme, Lebensfreude &bdquo;und Traumjob“: Jurist in einer Hamburger Celebrity-Kanzlei für prominente Mandanten. Der Gütersloher beriet Musikstars wie Nena oder Carmen Nebel. Er reiste viel, legte als DJ auf. Und ließ nicht nur im Job die Muskeln spielen. Seinen gestählten Body hielt er mit Krafttraining fit. &bdquo;Ich hatte alles. Ein Leben mit Vollgas auf der Überholspur“, sagt er. Bis die Vollbremsung kam. Heute ist es sein eigener Körper, der aus dem Leben des 33-Jährigen ein Martyrium macht. Hauke S. leidet unter Myalgischer Encephalomyelitis, auch Chronic Fatigue Syndrom genannt, kurz ME/CFS. Betroffene sind permanent erschöpft und oft dauerhaft ans Bett gefesselt. Seit vier Jahren sind S.' Nerven von der Multisystem-Erkrankung befallen, unter der in Deutschland geschätzte 250.000 Menschen leiden. &bdquo;Aber fast niemand nimmt sie wahr. Und kaum ein Arzt kennt sich aus“, klagt der Jurist an. Das will er ändern. Wenn jede Bewegung zur Tortur wird Zähneputzen. Haarekämmen. Eine Drehung im Bett. Was für gesunde Menschen fix erledigt ist, wird für Hauke S. schnell zur Tortur. &bdquo;Jede Bewegung kostet Kraft und Energie.“ Die fast 60-minütige Zoom-Konferenz mit dem NW-Redakteur &bdquo;findet unter 'Drogen' statt“, sagt S. freiheraus, &bdquo;denn momentan kann ich nur unter starken Medikamenten leben.“ Lasse er sie weg, dann liege er einfach &bdquo;blöd rum“. Im Bett seines pflegerisch umgerüsteten Jugendzimmers in Gütersloh, wo ihn seine Eltern pflegen. &bdquo;Für mehr fehlt die Kraft“. Patienten, die unter der der rätselhaften (weil kaum erforschten) Krankheit leiden, bekommen es mit zahllosen Symptomen zu tun. &bdquo;Das reicht von erheblichen Muskel- und Nervenschmerzen über extreme körperlicher Schwäche und kognitiven Störungen bis zu extremer Empfindlichkeit gegenüber sämtlichen Reizen“, erzählt S. Berührungen und Stimmen werden zur Qual. Selbst Tageslicht ist zuviel! &bdquo;Tausende von Menschen leben mit Ohrstöpseln und völlig abgedunkelten Räumen.“ Keine Heilung, keine Behandlung, kaum Hilfe Das besonders Tückische: Alle Anzeichen von ME/CFS verschlechtern sich akut bei einer Überlastung. &bdquo;Irgendeine Anstrengung, die über das Maß der Energiereserve, die man an dem Tag zur Verfügung hat, hinausgeht, verursacht eine Gesamtverschlechterung des Zustands. Die Batterie entleert sich und es wird schlimmer, je mehr man dagegen ankämpft“, erläutert Hauke S. &bdquo;Die Verschlechterung hält eine Woche, einen Monat, ein Jahr oder für immer. Man bekommt es bewusst mit, ist eingesperrt im eigenen Körper. Viele können das Bett nicht mehr verlassen.“ Das könne soweit gehen, dass eine künstliche Ernährung mittels Magensonde – wie in seinem Fall anderthalb Jahre lang – erforderlich sei, und für die Toilette eine Bettpfanne. Chancen auf Heilung? Gen null. Therapie oder Behandlung? &bdquo;Es gibt keine“, sagt S. Lediglich ein paar Medikamente würden ihm etwas Linderung verschaffen, paradoxer Weise mit gegenteiliger Wirkungsweise wie bei gesunden Menschen. 100.000 zusätzliche Patienten durch die Pandemie Zwar bereits 1969 von der Weltgesundheitsorganisation als neurologische Erkrankung eingestuft, sei ME/CFS tatsächlich jedoch &bdquo;eine der letzten großen Krankheiten, die kaum erforscht sind“. Das Europäische Parlament sieht ein gar &bdquo;verborgenes Problem im Gesundheitssystem“. Viele Ärzte seien mit dem Krankheitsbild nicht vertraut und würden falsch behandeln, so S. &bdquo;Führende Mediziner sprechen von der leisesten humanitären Katastrophe in Deutschland.“ Die Corona-Pandemie schafft einen weiteren Brandherd: Bundesweit, so schätzen Experten, könnten bis zu 100.000 zusätzliche Menschen durch eine Covid-19-Infektion die rätselhafte Nervenerkrankung in den nächsten Jahren erleiden. &bdquo;Die Spätfolgen von Corona entsprechen den typischen Symptomen von ME/CFS“, weiß Hauke S., &bdquo;und ME/CFS beginnt ja meist nach einem Infekt.“ Am Flughafen in Kroatien zusammengebrochen Sein eigener Tag X war ein heißer Tag im August 2017. Auf der Rückreise vom Kroatien-Urlaub mit einem Kumpel brach der Gütersloher am Flughafen zusammen. Er erinnert sich an &bdquo;ein Gefühl, als wenn deine gesamte Energie in den Boden gezogen wird und den Körper verlässt.“ Zunächst habe er einen Schwächeanfall vermutet. Später sei er von einem verschleppten Infekt ausgegangen.Typischerweise, so wissen auch die Experten um Professorin Carmen Scheibenbogen von der Berliner Charité (&bdquo;Sie forscht seit mehr als zehn Jahren“), kommt es bei ME/CFS nach einem Infekt zu schwerer Erschöpfung, die stets mit ausgeprägten körperlichen und kognitiven Symptomen einhergeht. Junge, vorher gesunde Menschen wie Hauke S. erholen sich nicht mehr und werden chronisch krank. Insgesamt leiden nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS weltweit 17 bis 20 Millionen Menschen unter der Erkrankung, von der Frauen dreimal häufiger betroffen sind als Männer. Expertin aus Mülheim begleitet den GütersloherDer Gütersloher suchte Hilfe beim Hausarzt. Er durchlief neurologische Tests in Bethel, fand Unterstützung bei einer Ärztin im Klinikum Gütersloh (&bdquo;Ihr verdanke ich mein Leben“) und schließlich in Beate Jäger aus Mülheim an der Ruhr eine Expertin, die ihn bis heute auf seinem Weg mit der Schwersterkrankung begleitet – es ist ein steiniger. &bdquo;Krankenhäuser verweigern außer im Notfall die Aufnahme, weil die Pflege für sie unwirtschaftlich ist und sie befürchten, den Patienten nicht mehr loszuwerden“, sagt Hauke S. Für Pflegedienste 24/7 reiche das Pflegegeld nicht aus, ebenso nicht für betreutes Wohnen. &bdquo;Die miserable Versorgungslage führt dazu, dass sich viele Betroffene für den Freitod entscheiden.“ Allein im vergangenen Jahr hätte er fünf Freunde mit ME/CFS verloren, die im Suizid den letzten Ausweg sahen. Stiftung soll bessere Erforschung ermöglichen &bdquo;Was mich am Leben hält, sind mehrere Faktoren: Ich bin verlobt und ich habe eine Familie, die sich aufopferungsvoll um mich kümmert. Ich will auch eines Tages wieder als Anwalt arbeiten“, sagt Hauke S., der seinen richtigen Namen nicht nennen möchte, um später nicht als schwerkrank &bdquo;abgestempelt“ und in der Branche möglicherweise benachteiligt zu werden. Zusätzlicher Antrieb sei auch der Gedanke daran, dass er etwas bewirken wolle. &bdquo;Ich will Menschen helfen, die genauso leiden wie ich.“ Deshalb versucht er mit aller ihm zur Verfügung stehender Kraft (&bdquo;Ich will ein treibende Motor sein“), weltweit Wissenschaftler und Patienten zu vernetzen und eine entsprechende Community aufzubauen. Damit nicht genug: Mit einem erfahrenen Unternehmensberater aus Hamburg, hat der Gütersloher eine gemeinnützige GmbH gegründet, die durch finanzielle Förderung eine bessere Forschung ermöglichen soll. Vom Investor stammen 25.000 Euro Mindestkapital. &bdquo;Im April oder Mai solle die Eintragung im Handelsregister erfolgen.“ Interview für die BBC, Kurz-Doku in der ARD Bei seinem Vorhaben, ME/CFS aus dem gegenwärtigen Schattendasein in der Gesellschaft zu holen, hofft Hauke S. auch auf prominente Unterstützung aus dem Bereich Medien. Für die BBC in England hat er bereits ein Interview gegeben. In der ARD soll im Mai eine Kurz-Doku über Long Covid mit Eckart von Hirschhausen (54) ausgestrahlt werden, in der der Gütersloher von seinen Erfahrungen mit der Erkrankung berichtet.Ob weitere Dreharbeiten stattfinden und Hauke S. möglicherweise Besuch von Deutschlands bekanntestem Arzt erhält, steht noch nicht fest. Wohl aber, dass sie ihm einen weiteren Kraftakt abverlangen würden. Für jede noch so kleinste Anstrengung muss der 33-Jährige schließlich dem Gefängnis seines eigenen Körpers entfliehen.

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