Gütersloh Der Landtagsabgeordnete Raphael Tigges lernt Gütersloh als Rollstuhlfahrer kennen

Gütersloh. &bdquo;Es ist eine Art Wett-Schuld und die gilt es einzulösen", sagt Raphael Tigges und nimmt die Aufgabe sportlich. Im Wahlkampf um sein Landtagsmandat hatte er während einer Podiumsdiskussion Anfang des Jahres beim Wertkreis behauptet, dass Gütersloh in Sachen Barrierefreiheit doch gar nicht so schlecht sei. Eine Steilvorlage für den anwesenden Rollstuhlfahrer Jürgen Linnemann, der ihn prompt einlud, auf Augenhöhe mit ihm eine Runde durch die Innenstadt zu drehen. &bdquo;So etwas hat es noch nicht gegeben", freut sich Jürgen Linnemann. Der Vorsitzende des Werkstatt-Rates begleitet Tigges im Speedy-Bike, einem Rollstuhl mit Handantrieb. Auch Michael Buschsieweke, Geschäftsführer des Wertkreises macht das Experiment mit und nimmt im Rollstuhl Platz. Am Rathaus geht die Tour los entlang der Berliner Straße durch die Fußgängerzone. &bdquo;Wir fahren mal zu Fritzenkötter rein", die Auslage ist niedrig und gut einsehbar, keine Stufen vor der Tür und das allerbeste: Rollstuhlfahrer müssen nicht wenden, können an der einen Tür rein, an der anderen wieder raus. Perfekt. Vor Apollo Optik ist es schwieriger: eine Stufe vor der Eingangstür von knapp zehn Zentimeter Höhe. &bdquo;Für uns Rollifahrer unüberwindbar", weiß Linnemann. &bdquo;Das schaffen nur hervorragend trainierte Menschen", ergänzt Buschsieweke und versucht es noch einmal rückwärts. &bdquo;Besonders schwierig", erklärt Linnemann, &bdquo;sind Gaststätten wie Barcelona oder Bankery." Zwar kommen Rollstuhlfahrer in die Gaststätten rein, aber die Toilettenräume liegen im Keller. Für Rollstuhlfahrer nicht zu schaffen. &bdquo;Das Ding hier gerade zu halten ist ganz schön schwer", schimpft Raphael Tigges schon nach 200 Metern über seinen Rolli, &bdquo;und es kostet Kraft." Die leichte Abschüssigkeit der Gehwege, die zum Abfließen des Regenwassers bewusst so konstruiert ist, bedeutet für Rollstuhlfahrer, dass sie konsequent gegensteuern müssen. &bdquo;Ich habe das Problem, dass mir die Handballen weh tun, weil ich ständig an den Reifen stoße", stellt Michael Buschsieweke fest. &bdquo;Ja, die Ärmelbündchen sind immer zuerst kaputt", kommentiert Linnemann, der das aus Erfahrung kennt. &bdquo;Hier dreh ich durch!" sagt Buschsieweke vor der Tür von Juwelier Christ. Die Rollstuhlrampe ist zu steil, der Geschäftsführer hängt fest, seine Reifen drehen sich auf dem nassen roten Teppich. &bdquo;Ohne Hilfe ist das nicht zu schaffen", weiß Dieter Weise, stellvertretender Vorsitzender des Werkstatt-Rates, und packt mit an. Mit sicherem Blick erfasst Weise sämtliche Stolperfallen auf dem Weg, hochstehende Gullideckel, Stufen und Unebenheiten und greift behände ein. &bdquo;Die Solidarität von behinderten Menschen untereinander ist enorm", schwärmt Michael Buschsieweke. Davon könne sich die Gesellschaft viel abgucken. Tut sie dann und wann auch. &bdquo;Wir leben von der Hilfe der Menschen um uns herum", kommentiert Patricia Smead-Füchte, die als Betreuerin von Jürgen Linnemann ein Leben im Rollstuhl hautnah verfolgt. &bdquo;Vor allem junge Männer packen oft mit an", und ohne diese fremde Hilfe sei ein Fortkommen von A nach B schlicht nicht möglich. &bdquo;An Bahnhöfen ist es besonders schlimm", weiß die Betreuerin und kann zahlreiche Beispiele anführen. &bdquo;Ich komm da nicht rein", wettert Buschsieweke vor der Glasflügeltür von Karstadt, während Raphael Tigges den Trick schon raus hat und ihn von innen anlächelt. Ein paar Meter weiter gehts aufs öffentliche Klo. &bdquo;Das ist aber suboptimal", meint Tigges und versucht ein Geldstück in den Automaten zu stecken, der für einen Rollstuhlfahrer viel zu hoch hängt. &bdquo;Das haben wir schon vor drei Jahren bei einer Stadtbegehung kritisiert", sagt Dieter Weise. Er bedauert, dass die Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung nicht gut klappt. &bdquo;Das war mal anders, aber das ist alles eingeschlafen." Derweil reicht Jürgen Linnemann seinen internationalen Toilettenschlüssel an Tigges weiter, damit er die Klotür öffnen kann. &bdquo;Ach, den hat jeder?" &bdquo;Nein", entgegnet Linnemann, &bdquo;den habe ich mir selbst bestellt." Tigges rollt weiter bis zum Kolbeplatz und Wertkreis-Mitarbeiter Weise hinterher. &bdquo;Sein Rolli hat Hartgummi-Reifen", sagt er mit einem Schmunzeln, &bdquo;die rollen am schlechtesten."