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Gütersloh Jesiden befürchten Völkermord

Gütersloher bitten um Hilfe für verfolgte Glaubensbrüder im Nordirak

VON THORSTEN GÖDECKER
05.08.2014 , 09:28 Uhr
Temil (Name geändert) versucht im Internet Hinweise auf seine Familie und Freunde im Nordirak zu finden. Im Minutentakt treffen Meldungen aus der Provinz Niniveh ein, in der zirka 350.000 Jesiden leben. - © FOTO: RAIMUND VORNBÄUMEN
Temil (Name geändert) versucht im Internet Hinweise auf seine Familie und Freunde im Nordirak zu finden. Im Minutentakt treffen Meldungen aus der Provinz Niniveh ein, in der zirka 350.000 Jesiden leben. | © FOTO: RAIMUND VORNBÄUMEN

Gütersloh/Shingal. Temil (Name geändert) sorgt sich – um seine Familie und um zirka 400.000 Jesiden, die von radikalsunnitischen Kämpfern gerade aus dem Nordirak vertrieben oder getötet werden. Temil lebt in Gütersloh, hat versucht Großtante und Großonkel in Shingal zu erreichen – ohne Erfolg. Die Vereinten Nationen wähnen mehr als 200.000 Menschen auf der Flucht vor den ISIS-Kämpfern. Die halten die Jesiden für Teufelsanbeter.

Shingal ist die zweitgrößte Stadt in der irakischen Provinz Ninive und ein Zentrum der Jesiden. Nun ist die Stadt gefallen und Temil spricht von "Völkermord" und "Massakern". Er lebt seit 2009 in Deutschland und entkam dem Chaos, dass die kriegerische Absetzung von Saddam Hussein durch amerikanische Truppen dem Irak bescherte.

Auch die "Gemeinschaft der jesidischen Vereine in Deutschland" bezichtig ISIS (Islamischer Staat im Irak und Syrien), systematisch gegen die Jesiden vorzugehen. Die Vereinten Nationen bestätigen, dass zigtausend Flüchtlinge vor der ISIS-Übermacht die Flucht in die kargen Berge des Sinjar Jebel angetreten haben.

"Meine Glaubensbrüder hatte nur ein paar alte Kalaschnikows, damit waren sie kein Gegner für die gerüsteten ISIS-Kämpfer", sagt Temil, der verbissen versucht, im Internet an Informationen über Familienmitglieder und Freunde zu kommen, die noch immer im Nordirak ausharren.

Temil hat am eigenen Leib erfahren, wie den Jesiden schon unter Saddam Hussein mitgespielt wurde, nun fürchtet er um die Existenz der uralten Glaubensgemeinschaft. Weltweit soll es 800.000 Jesiden geben – gut die Hälfte lebt im Nordirak.

Gestern forderte Temil zusammen mit anderen Demonstranten auf einer Kundgebung in Bielefeld die Vereinten Nationen, die USA und die Europäische Union zu humanitärer Hilfe für die Menschen im Nordirak auf. Zuvor hatte er eilige produzierte Computerausdrucke in Gütersloh plakatiert, um Mitstreiter zu bewegen, ihm nach Bielefeld zu folgen.

Temil kennt die karge Bergwelt im Norden des Irak. "Da harren nun Menschen bei 40 Grad Celsius ohne Wasser und Lebensmittel aus." Lange schützten die kurdischen Elitekämpfer der Peschmerga auch die Siedlungen der Jesiden. Aber auch sie können den sunnitischen Kriegern, die in Syrien und dem Irak ein Kalifat – einen islamischen Gottesstaat – errichten wollen, nicht mehr Paroli bieten. Nach einem Ultimatum zogen sich die Peschmerga zurück.

"Ich befürchte Massaker, wenn die ISIS-Truppen auch in die Berge vorstoßen", sagt Temil. Pogrome gegen die Jesiden, deren Religion sich zu großen Teilen im Verborgenen abspielt, seinen im Irak an der Tagesordnung gewesen. Während man irakische Christen verschone, wenn sie zum Islam konvertierten und ein Schutzgeld zahlten, seinen die Jesiden dem Hass der selbsternannten Gotteskrieger ausgeliefert. Auch deshalb will Temil nicht erkannt werden: "Ich weiß nicht, was das für Freunde und Verwandte im Irak bedeuten könnte."

Information

4.000 Jahre alte Religion

Die Jesiden sind Monotheisten, die nicht an die Existenz des Teufels glauben, weil das die Allmacht Gottes einschränken würde. Sie verfolgen ihre Wurzeln zurück zur zoroastrischen Religion Alt-Persiens und zum Mithraskult der Römer.

Die Jesiden haben – anders als die Christen und Muslime – nie versucht andere zu bekehren. Sie sehen das Jesidentum, in das man hineingeboren wird und zu dem man nicht konvertieren kann, als Religion des Friedens. Die Selbstgenügsamkeit der Jesiden führt in der offenen Gesellschaft zu Konflikten. Nach jesidischer Überzeugung bedeutet eine Heirat außerhalb der Religionsgemeinschaft so viel wie eine Austrittserklärung. Jesiden werden auch in Deutschland immer wieder mit sogenannten Ehrenmorden in Verbindung gebracht.

Am 1. November 2011 wurde die in Detmold lebende Jesidin Arzu Özmen (18) von ihrem Bruder erschossen, weil sie mit einem Deutschen zusammenleben wollte.