Jahresbilanz 10-Jahres-Höchstwert: Bielefelder Polizei besorgt über massiven Anstieg von Gewalt und Kriminalität

Bielefeld. Dass sich die Kriminalität nach den beiden Corona-Jahren wieder nach oben bewegen würde, war allen klar. Dass aber die Zahlen in mehreren Bereichen besorgniserregend nach oben schnellen würden, damit hatte auch die neue Polizeipräsidentin Sandra Müller-Steinhauer bei ihrer ersten Kripo-Jahresbilanz nicht gerechnet. Bei schweren Gewalttaten und Körperverletzungen, bei der Kinder- und Jugendkriminalität und beim sexuellen Missbrauch von Kindern musste die Kripo in Bielefeld jeweils 10-Jahres-Höchstwerte vermelden. Gesamtkriminalität Die Zahl der Straftaten in Bielefeld stieg im Vergleich zum Vorjahr auf 24.261 Delikte. Das sind 20 Prozent mehr als im Vorjahr und auch zum Vor-Corona-Niveau immer noch ein Plus von 8,7 Prozent. Insbesondere dafür ursächlich sind laut Müller-Steinhauer die gestiegenen Fallzahlen beim Diebstahl (+2.399), bei Internet-Taten (+747) und Straßenkriminalität (+623). 36 Prozent aller Straftaten waren in Bielefeld Diebstähle, knapp 20 Prozent Vermögens- und Fälschungsdelikte (ein Viertel davon Schwarzfahrten). Gewalttaten &bdquo;Dass wir bei der Gewaltkriminalität – also Mord, Totschlag, gefährliche und schwere Körperverletzung – deutlich über dem Vor-Corona-Niveau landen, damit habe ich nicht gerechnet“, sagt die Polizeipräsidentin. 1.003 Delikte bedeuten den höchsten Wert der letzten zehn Jahre. Das sei allein mit dem Ende der Coronamaßnahmen nicht zu erklären. 2019 zählte die Bielefelder Kripo nur 796 Gewalttaten, 2013 waren es nur 724. Über 1.000 waren es nie. &bdquo;Da müssen wir uns an die Arbeit machen. Das können wir als Polizei nicht hinnehmen“, sagt die Polizeipräsidentin und kündigt repressive sowie präventive Reaktionen an. &bdquo;Wenn die Gewaltbereitschaft in der Stadt steigt, sinkt damit das Sicherheitsgefühl der Bürger.“ Mord und Totschlag In Bielefeld wurden 6 Mordfälle (fünfmal Versuche) und drei Totschlagsfälle verübt. Nicht aufgeklärt wurde die fast tödliche Würgeattacke am 18. Januar auf eine Fahrlehrerin an der Straße Am Stadion. Aufgeklärt wurden die Versuche einer psychisch kranken Frau, wartende Fahrgäste vor die einfahrende Stadtbahn zu schubsen sowie die blutige Tat eines Bielefelders (51), der Ende Juli seine Ehefrau mit zahlreichen Messerstichen tötete. Zwei aufgeklärte Mordfälle (tödliche Schüsse in Brackwede und Messerstiche eines jungen Einbrechers) ereigneten sich zwar schon 2021, wurden aber erst 2022 aufgeklärt. Deshalb tauchen sie erst jetzt in der Kripo-Bilanz auf. Nicht in der Öffentlichkeit behandelt wurde die Messerattacke eines Demenzkranken im März auf seinen Zimmernachbarn im Pflegeheim. Als fahrlässige Tötung stufte die Polizei eine Fehlmedikation in einem Ärzteverfahren ein, das juristisch noch nicht abgeschlossen ist. Kriminelle Jugend Ernsthaft Sorgen bereiten Kripo-Chef Wolfgang Niewald in Bielefeld die jüngsten Täter. Schon in den vergangenen Jahren sei sichtbar gewesen, dass trotz rückläufiger Jugendstraftaten zumindest die Zahl der straffälligen Kinder (U14) nach oben gegangen war. Doch 2022 sind es nicht mehr nur die Kinder, sondern auch die Jugendlichen (14 bis 18 Jahre), die mit enormen Zuwächsen Probleme bereiten. Während die tatverdächtigen Kinder innerhalb eines Jahres von 304 auf 458 stiegen (+51 Prozent), sprang die Zahl krimineller Jugendlicher von 742 sogar auf 1.067 (+44 Prozent). Beides seien absolute Höchstwerte in den vergangenen 10 Jahren, sagt Niewald. Das Gros der Taten seien Diebstähle. Gut ein Viertel stellten Körperverletzungen dar – immerhin diese Quote sank zuletzt von 32 auf 27 Prozent. &bdquo;Wir haben trotzdem die Sorge, dass sich dieser Trend verfestigt, dass die Kinder ihre Delinquenz nicht verlieren.“ 2020 hatte Niewald genau diese Sorge bereits geäußert. Dass nämlich die Täter älter werden und als Jugendliche im Jugendkommissariat Stammgäste bleiben. Seit 2015 wird Kinder- und Jugendkriminalität zentral im Kriminalkommissariat 15 betreut. Viele dieser Täter zeigten erfahrungsgemäß nur ein episodenhaftes Fehlverhalten. &bdquo;Doch nun müssen wir befürchten, dass einige sehr früh kriminelle Karrieren einschlagen.“ Aktuell werden in Bielefeld 18 Jugendliche Intensivtäter mit besonderer Aufmerksamkeit betreut, weil sie jeweils auf 50 bis 80 Taten kommen. Schwere Sexualstraftaten auf dem Vormarsch Dass die Zahl der Vergewaltigungen und schweren sexuellen Nötigungen (92 Taten, plus 61 Prozent) in Bielefeld so hoch waren wie noch nie, liege nach Ansicht von Kripo-Chef Wolfgang Niewald eher nicht an einem kriminellen Trend, sondern an einem veränderten Anzeigeverhalten der Opfer und einer deutlich gestiegenen Sensibilität im Umfeld der Opfer (Schulen, Arbeitgeber, Nachbarn). Hier habe die #metoo-Debatte viel bewegt. Missbrauchsskandale wie in Lügde oder Münster hätten die Sensibilisierung deutlich erhöht. Die Übergriffe ereigneten sich in der Regel nicht per Überfall durch einen Unbekannten, meist bestehe zumindest eine lose Verbindung zwischen Täter und Opfer. Trotzdem sei der Anstieg der Fallzahlen allein damit auch nicht zu erklären. Höchstwert beim sexuellen Missbrauch von Kindern Auch beim sexuellen Missbrauch von Kindern muss die Kripo mit 63 Taten den höchsten Wert seit zehn Jahren konstatieren. Ein Plus von 34 Prozent. &bdquo;Dasselbe gilt für den Bereich Kinderpornografie“, sagt Müller-Steinhauer. Hier stiegen die Fallzahlen sogar um 42 Prozent. Allerdings seien diese Entwicklungen eher so zu verstehen, dass die Taten durch die Kripo vermehrt vom Dunkelfeld ins Hellfeld geholt würden. &bdquo;Jeder dieser Fälle ist erschütternd. Deshalb setzen wir unter Ausschöpfung aller rechtlichen und taktischen Möglichkeiten alles daran, Kindesmissbrauch aufzudecken und die Täter zu ermitteln.“ Das zeige auch die Aufklärungsquote, die bei Kindesmissbrauch in Bielefeld bei 81 Prozent liege. Wohnungseinbrüche Nach dem Rekordtief der Wohnungseinbrüche 2021 ist die Summe der Delikte im vergangenen Jahr wieder leicht nach oben gegangen – von 212 auf 249 Delikte. Vor Corona lag die Zahl der Wohnungseinbrüche noch bei 498, 2014 sogar bei 958. &bdquo;Die Täter wurden in Zeiten des Homeoffice ausgebremst“, sagt Niewald. &bdquo;Wir müssen jetzt beobachten, ob die Täter zurückkehren oder ob sie sich neue Beschäftigungsfelder gesucht haben.“ Internet-Kriminalität Ein Beispiel dafür dürfte die Internet-Kriminalität sein. Jede 20. Tat findet inzwischen im Internet statt, sagt Kripochef Niewald. Seit der Pandemie habe sich für viele Menschen Alltägliches ins Internet verlagert: Online-Shopping, Chats, Freizeitaktivitäten, smarte Steuerung von Geräten über Apps. &bdquo;Die Menschen sind an diesen Stellen verletzbarer geworden“, sagt die Polizeipräsidentin. Das eröffne Kriminellen mehr Spielräume. Niewald: &bdquo;Die Täter treffen mit teilweise extremer Professionalität auf Opfer mit teilweise hoher Verunsicherung. Es war schon unter Corona signifikant zu spüren, dass die Kriminellen das ausnutzen.“ Im Vergleich zu 2021 stieg die Zahl der Internet-Taten nun nochmals um 73 Prozent (+747) auf 1.769. 2019 zählte die Kripo hier nur 595 Taten. Die Kripo habe daraufhin erheblich mehr Ermittler mit den notwendigen IT-Studienabschlüssen eingestellt, so der Kripo-Chef. Drogenkriminalität Beim Drogenhandel, -konsum und -schmuggel gingen die Zahlen 2022 übrigens deutlich nach unten: 904 Delikte bedeuten einen Rückgang von 18,9 Prozent. Tiefer lagen die Zahl der Drogendelikte zuletzt 2015. Dazu muss man wissen: Drogendelikte sind Kontrolldelikte. Wer wenig kontrolliert, wird auch wenig aufdecken. Die Zahl der Drogentoten sank von 21 auf 14. Allerdings registrierte die Kripo deutlich mehr Raub- und Diebstahlsdelikte von Konsumenten harter Drogen (608, plus 24 Prozent). Sicherheit in der Innenstadt Polizeipräsidentin Sandra Müller-Steinhauer betont, dass der Behördenschwerpunkt "Sicherheit in der Innenstadt" auch 2023 fortgeführt werde: "In enger Kooperation mit der Stadt haben wir zwei Schwerpunkteinsätze durchgeführt, um Informationen über die Szenen zu erlangen und Täterstrukturen aufzuhellen, Straftaten aufzudecken und Beweismittel zu finden." Die Polizei wolle auch künftig Präsenz zeigen: "Die Szene soll wissen, dass wir sie im Blick haben."

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